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Mit „Apollokalypse“ für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Dichter Gerhard Falkner in Berlin.

© Alexander Paul Englert

"Apollokalypse" von Gerhard Falkner: Der Teufel möglicherweise

Sex, Drogen, Revolution: Der Dichter Gerhard Falkner huldigt in seinem späten Romandebüt „Apollokalpyse“ dem Berlin der Wendezeit.

Von Gregor Dotzauer

Vielleicht war die Zeit tatsächlich ein einziger Rausch. In der braunkohlegeschwängerten Luft schwebten psychoaktive Partikel, und das Leitungswasser war mit einer Spur Amphetamin versetzt. Wie sonst hätte Berlin in den achtziger und neunziger Jahren jenes Ungestüm ausbrüten können, das der Dichter Gerhard Falkner in seinem Roman „Apollokalypse“ als eine Mischung aus Ekstase und Höllentrip erinnert. Und müssen Nachgeborene wie Helene Hegemann bei der Lektüre nicht auf die Idee verfallen, damals habe es wenigstens noch Leute gegeben, die etwas erleben wollten, statt ihr ganzes Sinnen und Trachten auf die eigene Gesundheit zu verwenden?

Vielleicht war es im Kontinuum der Möglichkeiten auch nur die ganz normale Ballung von Sturm und Drang, Leichtsinn, Verausgabung, Wahnsinn, Trostlosigkeit und Verzweiflung, der sich einige, die ihr Glück erst in der geschlossenen, dann in der offenen Stadt suchten, mit jeder Faser hingaben. Jede Zeit hat ihre Jugend, jede Jugend ihre Zeit, und im Abstand gewinnen die Dinge immer schärfere Kontur. Die Farbsättigung nimmt just in dem Moment zu, in dem die fortlaufende „Bildung von Seele“ im blinden Einverständnis mit dem Restkörper abnimmt und sich von Neuem jener Schleier herabsenkt, den Falkner schon im ersten Satz fortzureißen gedenkt: „Wenn man verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in Erscheinung zu treten.“

Wer an dieser Stelle schon zusammenzuckt, tut gut daran, sich der plastischen Ausmalung dieser gewiss nicht auf die achtziger Jahre beschränkten Einsicht, die in zahllose orgiastisch-orgasmische Szenen mündet, gar nicht erst auszusetzen. Sex ist für Falkner ein erkenntnisförderndes Mittel. „Die Körper werden klarer, die Sonnen lodern heller, die Städte gehen tiefer.“ Mit anderen Worten: Wer Berlin nahekommen will, und man kommt Berlin in diesem topografisch ebenso genauen wie poetisch halluzinierten Roman so nahe, wie es mit vergleichbarer Sprachmacht keinem Schriftsteller in den letzten Jahren gelungen ist, der muss es über den Unterleib betreten.

Generalinventur des städtischen Organismus

Aber was heißt schon Berlin? Mit einer an Irrsinn grenzenden Weltläufigkeit pflügt Falkner auch durch Nürnberg und München, Sofia und Dubrovnik, New York und San Francisco, England und Neuengland. Das hat mit einer Generalinventur des städtischen Organismus in seiner europäisch-amerikanischen Ausprägung zu tun, der ihm zuletzt fast immer als Kulissenschieberei und trompe-l’œil erschienen war. Mehr noch aber lässt es sich auf den Ich-Erzähler Georg Autenrieth zurückführen, eine mindestens gespaltene, wenn nicht höhergradig multiple Persönlichkeit, die auf der Suche nach sich selbst und ihrer Geschichte ist.

Autenrieth ist sowohl ein Hansdampf in allen Gassen als auch ein Genie des Verschwindens. Ob er den polnischen Abgang übt oder daran arbeitet, sich als „Glasmann“ unsichtbar zu machen, in seiner rätselhaften Identität versteht er nicht einmal sich selbst. Er taucht ein in die Dunstkreise von Stasi und RAF und mit beiden unter. Mit seiner Ich-Schwäche, ja Verachtung für alle, die glauben, sie müssten, „was ihren eigenen Ort angeht, nur ICH sagen, und schon hätte man diesen einigermaßen eingegrenzt“, variiert er den Erzähler der Novelle „Bruno“, der in dem gleichnamigen Problembären seinen Artgenossen erkannte. Und als episches Pendant zu der „Ich-Ritze", die in dem Berlin gewidmeten Langgedicht „Gegensprechstadt – ground zero“ von 2005 auftritt, ist er nur Kühlsystem und Durchlauferhitzer von Wahrnehmungen und Gedanken.

Man kann schwer zusammenfassen, was ihm und den Freunden Dirk Pruy, einem gleichfalls talentierten Verschwindikus mit dandyhaften Zügen, und dem instabilen Künstler Heinrich Büttner, der sich schließlich per Selbstmord aus dem Weg räumt, alles zustößt. Bewusst erratisch verlaufen die Handlungssprünge, und doch entwickelt dieser verquere Bildungsroman, der sich auch aufs Komische versteht, einen mitreißenden Sound, der nicht nur auf Tempo setzt, sondern mit einer Beobachtungsdichte glänzt, die auch für das heutige Berlin noch als herausragende Schule des literarischen Sehens dienen kann.

Wie Falkner zwischen Steglitz und Kreuzberg durch die Straßen wandert und in der Mark Brandenburg ein „Land flach wie eine aufgehaltene Hand“ entdeckt, darf man eigentlich gar nicht kurz zitieren, um den Atem zu vermitteln, den er über Absätze hinweg durchhält. „Der Himmel sieht aus wie frisch gemäht, ganz kurz geschnittenes Blau, damit der riesige, farblose Raum darunter sich ungehindert ausbreiten kann.“

Die Männer sind von furchterregender Potenz

Als Lyriker eine der bedeutendsten Stimmen seiner Generation. Gerhard Falkner.
Als Lyriker eine der bedeutendsten Stimmen seiner Generation. Gerhard Falkner.

© Alexander Paul Englert

Für so viel Schönheit muss man in Kauf nehmen, dass die Männer, allen voran Autenrieth, von furchterregender Potenz sind, und die Frauen von schrankenloser Lüsternheit. Man muss sich damit abfinden, dass alles, was an Politik verhandelt wird, sich restlos in Ästhetik auflöst. Von den Motiven für den Terror der RAF ist hier nichts geblieben. Entschuldigen lässt es sich höchstens dadurch, dass Falkner schon früh darauf hinweist, dass es sich bei seinem Helden um einen wahrhaft teuflischen Gesellen handle, etwa wenn der kopulierende Autenrieth gesteht: „Unmittelbar hinter der Stelle, wo ich in ihr steckte, wuchs in entgegengesetzter Richtung ein Schwanz, der die Länge des erstaunten Penis in einer perversen Übertreibung übertraf.“

„Apollokalypse“ betreibt von daher eine dreifache Mythologisierung. Erstens lässt der Roman Berlin im Gravitationszentrum des Jahrzehnts von 1985 bis 1995 nicht nur als beispielloses Energiefeld aufleben, in dem auch mal Martin Kippenberger, Iggy Pop oder David Bowie die Straße überqueren. Zweitens lädt er es mit den Abgründen der griechischen Götterwelt auf. Das beginnt beim Titel, der die Namen von Apollon, den Hüter des Lichts, mit dem der Meernymphe Kalypso zusammenbringt und beide im Untergang der Welt vereint. Und es setzt sich fort in der archetypisierenden Figurengestaltung, die Isabel, die extravagante Westfrau, als Aphrodite entwirft, gegen Biljana, die bösartige Ostfrau mit bulgarischen Wurzeln. Drittens spielt er mit jenen luziferischen Elementen, die „Apollokalypse“ als modernen Wiedergänger der „Elixiere des Teufels“ erscheinen lassen, den Doppelgängerroman eines Schauerromantikers, der wie der 1951 in Schwabach geborene Falkner ein Grenzgänger zwischen Franken und Berlin war: E.T.A. Hoffmann.

Der Roman als Dauererektion

Dies alles funktioniert mit großer Selbstverständlichkeit, wie auch die literarischen Bezüge, die Falkner mit Ovids „Metamorphosen“ und Marcel Prousts „Recherche“ erkennbar setzt, vermessen sein mögen, aber die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen. Die Abschnitte des Kapitels „Walter Kirchners Neue Filmkunst zeigt: Metamorphosen“, in denen die Fantasie ihre absurdesten Kapriolen schlägt, gehören sogar zu den Höhepunkten des Romans. Problematisch ist vielmehr, dass Falkner jeden möglichen Einwand gegen sein Erzählen selbstreflexiv abzudichten versucht. All die vorweggenommenen Bezichtigungen, das erzählerische Gewebe sei löchrig und die Sexbesessenheit nehme überhand, zeugen von einer Metafiktionalität, die kokett Ausflüchte sucht, aber keine nachvollziehbare erzählerische Funktion übernimmt.

Denn die stofflichen Rechtfertigungen sind, wenn man sie denn akzeptiert, immer schon da. Etwa die Novelle „Die zersungenen Schwänze“, die der 18-jährige Autenrieth schreiben wollte. Als Inspiration diente ihm „der ganz besondere Westberliner Priapismus jener Jahre, also die permanente Versteifung des stadtdurchpulsten Penis als seelische Fehlhaltung.“ Priapos, von Dionysos und Aphrodite gezeugt, ist jener Gott der Fruchtbarkeit, den unzählige Skulpturen zeigen, wie er sein riesiges Gemächt vor sich herträgt. Er erklärt das Dauererigierte dieses Romans zur Genüge.

Keine der Sexszenen ist literarisch per se missglückt, keine ist peinlich. Man werfe einen Blick in Rainer Moritz’ instruktives Buch „Wer hat den schlechtesten Sex?“, und man begreift, wie hilflos selbst namhafte Autoren auf diesem Gebiet sonst agieren. Befremdlich ist die Kälte, mit der das Vergnügen hier exerziert wird, zumal es so etwas wie Liebe gar nicht erst gibt. Gegen die Sinnlichkeit, mit der Gerhard Falkner den Eros der Stadt zelebriert, wirkt das Menschliche geradezu billig.

Gerhard Falkner: Apollokalypse. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2016. 430 Seiten, 22 €. Die Premierenlesung findet am Dienstag, den 6. September, um 20 Uhr in der Berliner Autorenbuchhandlung am Savignyplatz statt.

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