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Macht der Verzweiflung. Frauen demonstrieren vor dem Präsidentenpalast in Kairo gegen Mursi und die Muslimbruderschaft. Eine Szene vom Juli dieses Jahres.

© AFP

Arabischer Frühling: Die Utopie vom Tahrir-Platz

Was hat der Arabische Frühling den Frauen gebracht? Mehr Gewalt - aber auch eine starke Mobilisierung dagegen, Männer eingeschlossen. Die Böll-Stiftung in Berlin hat dazu eine Tagung veranstaltet.

Es schien ein Vorgriff auf eine bessere Zukunft zu sein, eine doppelte Befreiung: Frauen und Männer, die einträchtig auf dem Tahrir-Platz in Kairo demonstrierten, dort tage- und nächtelang campierten und schließlich das Regime Mubaraks zu Fall brachten. Aktivistinnen schwärmten vom Tahrir-Platz als wahr gewordener Utopie auch der Geschlechterbeziehungen: keine Übergriffe auf Frauen, keine Vergewaltigungen, nicht einmal Anmache.

Doch längst kommen andere Nachrichten aus Ägypten: von erniedrigenden „Jungfräulichkeitstests“, von Uniformierten, die Frauen die Kleider vom Leib reißen, von massiver sexualisierter und häuslicher Gewalt auch in den anderen Ländern.der Arabischen Frühlings „(K)ein Frühling für Frauen?“ fragte deshalb die Böll-Stiftung in dieser Woche Wissenschaftlerinnen, Juristinnen, Aktive des Umbruchs. Ägyptens Frauen haben nach UN-Studien zu 99 Prozent sexuelle Belästigung erfahren, ein Drittel gibt an, vergewaltigt worden zu sein. Und die Gewalt hat sich, so die Forscherin Mariz Tadros von der Universität Sussex, nach dem Aufstand verschlimmert: weil die Wirtschaft am Boden liegt, der Staat kaum Sicherheit geben kann, weil mehr Waffen im Umlauf sind und nach dem Ende von Mubaraks „Staatsfeminismus“ nun gar keine politische Kraft mehr ernsthaft Frauenrechte im Angebot hat . Das gilt für viele Länder in der Region und ist auch in Syrien derzeit allerblutigste Realität.

Dennoch wird der Titel der Tagung in der Böll-Stiftung gleich zu Beginn des zweitägigen Kongresses in Berlin kritisch hinterfragt: Frühling der Frauen? Nadje Al-Ali von der Londoner School for Oriental and African Studies weist auf die globale und regionale Großwetterlage hin, in der dieser Arabische Frühling stattfand, auf die westlichen Okkupationen in der arabischen Welt, den Irakkrieg, die Intervention in Libyen. Es gebe da eine „zivilisatorische Mission“ des Westens. Frauen und ihre Körper sind dabei „stark markierte Ziele“, wie al-Ali es nennt, eine ideale Projektionsfläche für die arabischen wie die westlichen Gesellschaften, um den Gegensatz „Wir gegen sie“ herzustellen. Daher seien Dresscodes und Jungfräulichkeit so wichtig, den einen wie den andern.

Es ist leichter, einen Diktator loszuwerden, als das Patriarchat

Erniedrigung, die auf das Geschlecht zielt, gebe es in der Region auch durch Amerikaner; im Gefängnis von Abu Ghraib seien (arabische) Männer Opfer (amerikanischer) Soldatinnen geworden - wie überhaupt auch Männer immer mehr Opfer sexualisierter Brutalität würden, das wird auf der Tagung von vielen Seiten betont. Die einheimische Gewalt gegen Frauen sieht Al-Ali in einem komplexeren Zusammenhang. Die „Männer-Restauration“ zeige vor allem, wie geschwächt sich das Patriarchat inzwischen fühle, vor allem in Ägypten, wo Frauen in Gewerkschaften und politischen Bewegungen aktiv waren und sind. Der Weg zurück zu jenen vermeintlich goldenen Zeiten, als Männer noch „richtige“ Männer und Frauen „richtige“ Frauen waren, sagte Al-Ali, „erfordert daher ein höheres Maß an Zwang und Gewalt. Das erklärt manches, was wir in der Region sehen.“

Ist es also leichter, „einen Diktator loszuwerden als das Patriarchat“, wie Naiema Gebril seufzt, Richterin am Berufungsgericht in Benghazi? Die Tradition Libyens , ihres Landes, sei immer stärker gewesen als fortschrittliche Gesetze und eine stark weibliche Justiz, wie es sie schon zu Gaddafis Zeiten gegeben habe: „Geschlechterpolitik wurde nie umgesetzt.“

Dem Traditionsargument hatte Nadje Al-Ali zuvor bereits widersprochen. „Kultur ist wichtig, aber in einem umfassenderen Sinne“. Es gehe nicht nur um Prägungen durch Religion, sondern auch durch Theater, Kino und Literatur. „Tradition ist oft etwas sorgfältig aus der Vergangenheit für heutige Zwecke Gewähltes. Die Kleidervorschriften muslimischer Frauen zum Beispiel sind ein sehr modernes Phänomen.“

Und was Diktatur und Patriarchat betrifft, sind die beiden kaum voneinander zu trennen, meint Al-Ali. "Der Streit um Männlichkeit und Weiblichkeit steht im Zentrum politischer Umbrüche." Auf diesem Feld ist der Arabische Frühling aus ihrer Sicht sehr erfolgreich gewesen, mit seiner nie dagewesenen Mobilisierung auch gegen sexuelle Gewalt, einschließlich neuer Formen von Männlichkeit. "Niemals zuvor,gab es so viele Männer, vor allem junge, die sich gegen sexuelle Gewalt engagierten."

Einer von ihnen ist nach Berlin gekommen: Mohamed El-Khateeb von „Harass Map“ in Ägypten. Die Gruppe, in der Frauen und Männer zusammenarbeiten, dokumentiert Übergriffe, berät und hilft Opfern. „Wir wollen Schluss machen damit, dass sexuelle Belästigung in Ägypten gesellschaftlich akzeptiert ist“, heißt es auf der Website der Ende 2010 gegründeten NGO. In solchen Initiativen kann die Utopie vom Tahrir-Platz weiterleben.

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