zum Hauptinhalt

Kultur: Arbeitsamtsozialismus statt Marktwirtschaft: Von der Illusion als erster Bürgerpflicht

Nach der Wende 1989 stellte sich die Aufgabe, aus einer gescheiterten Kommandowirtschaft eine funktionierende Marktwirtschaft zu machen. Dafür wanderte viel, sehr viel Geld von West nach Ost.

Nach der Wende 1989 stellte sich die Aufgabe, aus einer gescheiterten Kommandowirtschaft eine funktionierende Marktwirtschaft zu machen. Dafür wanderte viel, sehr viel Geld von West nach Ost. Die bisherigen Ergebnisse sind gut für drei ernüchternde Geschichten. Zunächst aber zur Sache.

Seit 1991 wurden von Westdeutschland und der Europäischen Union mehr als 1,4 Billionen Mark in die neuen Länder einschließlich Ost-Berlin transferiert. Alle in Deutschland zugelassenen 52 Millionen Autos zusammen sind etwa so viel Wert. Von 1991 bis heute ist das Volkseinkommen in Deutschland um ganze 600 Milliarden Mark gewachsen. Mehr als doppelt so viel sind in die neuen Länder geflossen. Die Haushaltsnettoeinkommen in den neuen Ländern liegen nach zehn Jahren bei 80 Prozent der westdeutschen. Ein stolzes Ergebnis, wenn man weiß, dass es üblicherweise - also ohne besondere Politik - in anderen Ländern etwa 35 Jahre dauerte, bis sich der Einkommensabstand zwischen zwei Regionen auch nur halbiert hat.

Aber das ist nur die eine Seite - es gibt eine andere. Die Wirtschaft in den neuen Ländern schafft nur zwei Drittel der Werte, die sie für privaten Konsum, für Staatsverbrauch und für Investitionen ausgibt. Das sind seit 1991 Jahr für Jahr über 200 Milliarden Mark, die von West nach Ost transferiert werden müssen. Lebten die 15,3 Millionen Ostdeutschen in einem Land mit eigener Währung, so hieße diese Differenz zwischen Produktion und Absorption strukturelles, also dauerhaftes Leistungsbilanzdefizit. Der Wechselkurs der Währung eines Landes mit einem außenwirtschaftlichen Ungleichgewicht von einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts geriete ins Trudeln. Die D-Mark für Ostdeutschland verlöre zumindest ein Drittel ihrer internationalen Kaufkraft, weil eben überbewertet. Denn gemessen an der gesamtwirtschaftlichen Produktivität der neuen Länder sind die Lohnstückkosten um mehr als ein Drittel zu hoch - die Kapitalausstattung der Wirtschaft liegt um reichlich 25 Prozent unterhalb derjenigen der alten Länder. Trotz aller bisherigen Transfers. Fast jeder Fünfte in den neuen Ländern ist arbeitslos, die Zahl der Erwerbstätigen in den neuen Ländern sinkt, während sie in Westdeutschland steigt.

Es wird nicht besser, im Gegenteil

Niemand wagt die Prognose, dass sich daran etwas grundlegend ändert. Aus der Kommandowirtschaft ist keine Marktwirtschaft, sondern eine Transferwirtschaft geworden. Eine Art Arbeitsamtsozialismus, in dem sich zu viele von staatlich zugeteiltem Geld ernähren müssen, weil es für sie keine Arbeitsplätze gibt, die es ihnen ermöglichten, wettbewerbsfähige Güter zu produzieren und von deren Ertrag zu leben. Daran kann man sich gewöhnen. So entstehen Versorgungsgesellschaften, die sich zu leistungsgesteuerten Gesellschaften wie Wasser zu Feuer verhalten. Stichwort: Geteilte Republik.

Wolfgang Thierse sagt, Ostdeutschland stehe auf der Kippe. Ökonomisch ist die Entwicklung genau genommen schon 1996 gekippt. Denn seither liegen die Wachstumsraten der ostdeutschen deutlich unterhalb derjenigen der westdeutschen Länder. Die neuen Länder holen also seit mehr als fünf Jahren nicht mehr auf, sondern fallen Jahr für Jahr zurück. Von Angleichung keine Spur. Die Entfernung wächst.

Die Ostdeutschen stimmen wieder mit den Füßen ab. Seit 1991, seit die Mark zu ihnen gekommen ist, schrumpfte die Einwohnerzahl um 650 000. Allein 1999 nahm die Bevölkerung in den neuen Ländern um 72 500 Menschen ab, so die letzten veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Außer Brandenburg zählen alle neuen Länder zu den Verlierern. Sachsen: minus 30 000, Sachsen-Anhalt: minus 26 000, Thüringen: minus 14 000, Berlin: minus 12 000 und Mecklenburg-Vorpommern: minus 9 000. Brandenburg gewann im Umland Berlins mit 10 000 Menschen knapp so viel wie Berlin verlor. Das ist eine ökonomisch unproblematische Binnenwanderung, auch wenn sie die Steuerbasis von Berlin ärgerlicherweise schmälert.

Diese Zahlen spiegeln die Differenzen zwischen Zu- und Abwanderung und zwischen Sterbe- und Geburtenrate. Sie zeigen also, dass in den Verliererländern weniger Menschen geboren werden als sterben. Sie sind amtlicher Beleg für die Überalterung der Bevölkerung in den neuen Ländern ebenso wie für die Abwanderung von zumeist jungen Leistungsträgern. 44 000 Menschen sind allein 1999 aus den neuen Ländern migriert. Vorzugsweise in die alten. Von 1997 bis 1999 hat sich die Abwanderung sprunghaft vervierfacht. Mehrere hunderttausend Ostdeutsche pendeln zu Arbeitsplätzen nach Westdeutschland, weil sie zu Hause keine Arbeit fanden; Fernpendler sind in der Regel eine Vorstufe der Abwanderung. Der Abzug von jungen und mobilen Leistungsträgern ist ein untrügliches Zeichen für unzureichende ökonomische Aussichten. Diese Flucht spiegelt die ökonomische Deaktivierung von ganzen Ländern. Ökonomen nennen diesen Prozess gelegentlich "passive Sanierung". Eine Verharmlosung, die Siechtum als Sanierung, als Gesundung erscheinen lassen will.

Dieser Prozess wirkt ungebremst auf breiter Front in den deutschen Ländern, weil Politik den Ostdeutschen nicht sagt, dass sie sich bei den Löhnen zurückhalten müssen, weil diese der Produktivität davongelaufen sind. Und weil Politik den Westdeutschen nicht klarzumachen versucht, dass die Ostdeutschen nur dann von den Transfers unabhängiger werden können, wenn sie jetzt mehr Geld für Investitionen in Infrastruktur und in Unternehmen bekommen. Nur wenn Ostdeutschland Marktanteile gewinnt, kann es stärker wachsen als Westdeutschland, also die Chancen seiner Bürger erhöhen, von eigener Erwerbstätigkeit und nicht von Dauertransfers aus der Steuer- und Beitragskasse der Westdeutschen zu leben.

Die Abstimmung mit den Füßen

Abwandern ist eine radikale Lebensentscheidung. Menschen verlassen ihre Familie, ihre Freunde, ihre vertraute Nachbarschaft nur, wenn sie dauerhaft keine Zukunftschance sehen, sich zu Hause anständig ernähren zu können. Jeder glaubwürdige, begründbare Lichtblick, in ein paar Jahren ähnliche Chancen in den neuen Ländern zu haben wie woanders, vermindert die Motivation, die Heimat zu verlassen. Selbstverständlich kann marktwirtschaftliche Politik ebenso wenig wie staatssozialistische in jedes Dorf oder jeden Landstrich moderne Arbeitsplätze bringen. Aber jedes der neuen Länder kann durch Wirtschaftspolitik Wachstumspole fördern, die vom Dorf aus ohne unzumutbare Anstrengung erreichbar sind. Und den Menschen in der Regel ersparen, Familie und Freunde zurückzulassen.

Gegenwärtig setzt Politik mehr auf den flexiblen Menschen als darauf, flexibles Kapital in die Nähe der Menschen zu bringen. Die Abwerbung der leistungsfähigsten Ostdeutschen durch westdeutsche Unternehmen nimmt zu. Die Bundesanstalt für Arbeit zahlt Prämien für junge, potenzielle Abwanderer aus den neuen Ländern. Eine fatale Falle: Die Aktiven gehen, die Bleibenden resignieren und werden anfälliger für "dumpfe Reaktion." Die Skala reicht von passiver Anspruchsmentalität bis zu gewaltsamem Radikalismus.

Wenn Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei in wenigen Jahren der EU beitreten, wird die ökonomische Lage der neuen Länder eher schlechter denn besser. Weil sie noch immer, so der Präsident des Münchner ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, die am wenigsten wettbewerbsfähige Region in der EU sind. Für Sloty, Krone etc. werden bei Beitritt Wechselkurse zum Euro im Europäischen Währungssystem festgelegt. Niemand wird darauf Rücksicht nehmen können, dass gemessen an der niedrigen gesamtwirtschaftlichen Produktivität in Ostdeutschland die Mark, der Euro überbewertet ist. Der Sloty, die Krone etc. werden gegenüber dem Euro entsprechend der Leistungsfähigkeit der polnischen, tschechischen Wirtschaft bewertet. Das heißt: Für die neuen Länder mit ihrer überbewerteten Mark ist der Sloty dann zu billig - und damit sind es die künftig in Polen produzierten Produkte gemessen am Kostenniveau in Ostdeutschland.

Aber muss deutsche Politik deshalb in die Falle tappen? Selbstverständlich nicht. Die auf der Hand liegende Doppeloperation lautet: Unternehmensinvestitionen in Ostdeutschland insgesamt bis zum Beitritt steuerlich massiv zusätzlich fördern und den für die Produktivitätsentwicklung in Ostdeutschland notwendigen Infrastrukturausbau, eine Lücke von etwa 300 Milliarden Mark, beschleunigt schließen. Und ebenso zwingend: eine Lohnpolitik der Tarifvertragsparteien, die sicherstellt, dass die Produktivität die ihr vorausgeeilte Lohnentwicklung aufholen kann. Damit zusätzliche Investitionen zu Marktanteils- und Beschäftigungsgewinnen führen können.

Jeder Tag, der auf dem Altar der Träume geopfert wird, schafft heftige ökonomische und politische Probleme zwischen Ost und West. Etwa, wenn nach dem Beitritt der EU-Kandidaten nicht nur die Transferkosten für Ostdeutschland durch weitere Arbeitslosigkeit, weniger Marktanteile, geringere Steuerkraft der neuen Länder, sondern zugleich die Beiträge der Bundeskasse für die Strukturfonds der EU zu Gunsten der Beitrittskandidaten steigen werden. Letztere sind so unausweichlich wie die West-Ost Transfers, wenn das elementare Ziel der Konvergenz, also der beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung der Beitrittskandidaten, erreicht werden soll. Die Lasten für die Westdeutschen werden also nach 2004 keineswegs abnehmen. Die Ostdeutschen werden weiter abwandern, wenn beispielsweise Polen die Transfers für mehr Wettbewerbsfähigkeit nutzt und Ostdeutschland Marktanteile verliert, statt welche zu gewinnen. Die Bleibenden werden immer mehr auf Transfers aus dem Westen angewiesen sein.

Nun zu den drei Geschichten:

Erstens: Verschweigen als Sprachregelung

1990 malten Politiker die Ostlieferungen der damaligen DDR als Wachstumsmärkte der Zukunft an den rosigen Horizont. Obwohl es keine Märkte waren, sondern kommandierte Lieferverpflichtungen im Comecon und der Aufwertungsschock durch Umstellung der Ostmark auf die Westmark die ostdeutschen Lieferungen hoffnungslos verteuerten. Nach gleichem Drehbuch agieren jene, die heute den Ostdeutschen erzählen, mit dem Beitritt wüchsen ihnen neue Märkte im Osten zu. Das stimmt nur für solche Unternehmen, die bis dahin ihr Problem der zu geringen Produktivität gelöst haben. Für die Ostwirtschaft insgesamt stimmt es nicht. 2001 werden - wie gehabt - den Westdeutschen künftige Kosten kleingeredet und den Ostdeutschen die Risiken verschwiegen.

Zwei Zitate:

1991, Wolfgang Schäuble, ehemaliger Chef des Bundeskanzleramtes: "Es war Lothar de Maizière genauso klar wie Tietmeyer..., der die eigentlichen Verhandlungen führte, ... und mir, dass mit der Einführung der Westwährung die DDR-Betriebe schlagartig nicht mehr konkurrenzfähig sein würden."

2001, bei Rolf Schwanitz, dem Staatminister im Kanzleramt, klingt das so:

"Die neuen Länder voranbringen heißt: Couragiert nach vorn schauen, Verantwortung übernehmen, kreativ, flexibel und tatkräftig sein." Und: "Das war bisher so, und so wird es bleiben." Vor der nächsten Wahl ist alles wundervoll.

Zweitens: Die Politik des Verschwommenen wiederholt sich.

Ab 2005, nach der nächsten Bundestagswahl, soll ein neuer Solidarpakt für Ostdeutschland gelten. Politik erweckt den Eindruck, dann könne alles billiger werden und dazu noch wirksamer. Wer 1990 am wirtschaftlichen Erfolg der Rosskur zweifelte, wurde per politischer Sprachregelungen als Gegner der Marktwirtschaft und Verräter an der Einheit disqualifiziert. Wer sich wie Wolfgang Thierse und andere heute weigert, kollektive Leichtfertigkeit als Prinzip hinzunehmen, dem ergeht es ähnlich. Thierse wird von Kurt Biedenkopf beschuldigt, psychologisch das Falsche zu sagen, obwohl die Fakten unbestreitbar seien. Rolf Schwanitz, der den Aufbau Ost verwaltet, belehrt Thierse: "Bei sachgerechter Einschätzung stellt sich die Entwicklung differenzierter dar." Ohne dass Schwanitz ein Wort zum Kernproblem verlöre, wie und wann der Prozess eines seit 1996 immer größer werdenden Abstandes zwischen West und Ost umgekehrt werden könnte. Der Bundeskanzler selbst gab nach seiner letztjährigen Reise durch die neuen Länder die Parole aus, "die Hälfte der Strecke" sei geschafft, obwohl doch der Weg zur westlichen Wirtschaftskraft seit 1996 Jahr für Jahr länger geworden ist. Wird Illusion erneut zu ersten Politikerpflicht vor Wahlen in Ost und West? "Wir können für die SPD nichts Besseres tun, als ihr im Osten die Wählerbasis zu schaffen, die ihr 1998 zu Sieg verhalf. Anders als damals werden wir nicht an unseren Absichten, sondern an unseren Leistungen gemessen", antwortet Wolfgang Thierse dem Bundeskanzler.

Drittens: Wenn Lehrmeinungen Ideologien werden

Die letzte Geschichte ist ein Lehrstück zum Ende aller Aufklärung, wenn Lehrmeinungen zu publizistischen Allgemeinplätzen und ewigen politischen Wahrheiten, Ideologien eben, degenerieren. Gegenwärtig ist es modern, mit einer Rezeptur alle ökonomischen Fälle zu therapieren: öffentliche Schulden zurückführen, Steuern senken, Staatsanteil zurücknehmen. Die Kur kommt aus den USA und war dort nach der selbst gemachten Schuldenexplosion unter Präsident Reagan höchst dringlich. Gerade in diesen Tagen aber zeigt Alan Greenspan, der Präsident der US-Notenbank, dass Rezepte von gestern nicht für neue Probleme taugen: Die Fed senkt die Zinsen bei Inflationsraten von über drei Prozent und ermutigt die USRegierung, Steuern zu senken, statt Schulden zu tilgen. Weil sonst die Konjunktur einbreche, also ein großes Übel drohe. US-Wirtschaftspolitik kann sich also immer wieder von ideologischer Einfalt befreien.

Hierzulande ist sie noch Gefangene gestriger Formeln für andere Problemlagen. Intellektuelle Trägheit, mangelnde öffentliche Courage von Politikern, die ansonsten nicht müde werden, die Bürger zur Zivilcourage aufzurufen, wird zum Nährboden gläubiger Mehrheiten und der vom alten Programm Privilegierten.

Die Berliner Finanzpolitik kann den Aufbau Ost nicht beschleunigen, wenn sie zu früh Mehreinnahmen zur Tilgung von Schulden verwendet. Man kann auch keine zusätzlichen finanziellen Anreize für private Investoren in Ostdeutschland geben, wenn man die Mittel dafür in Steuersenkungen für westdeutsche Konzerne steckt. Man kann nicht gleichzeitig Schulden tilgen und nötige Investitionen finanzieren. Und jetzt tilgen, um später irgendwann zu investieren, verlängert den Weg und beschleunigt die Abwanderung. Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit, Kapitalismus sind ohne Kapital zur rechten Zeit nicht zu haben.

Die Bundesregierung freilich hat den Widerspruch verbal im Griff. In ihrem gerade erschienenen Jahreswirtschaftsbericht schreibt sie allen Ernstes, die Regierung werde den "wirtschaftlichen Aufholprozess in den neuen Ländern weiterhin wirkungsvoll unterstützen" durch "das Zusammenwirken von Haushaltskonsolidierung" und "durch gezielte Förderung des Aufbaus Ost". Dieser frohe Satz, der nur um verwirrende Einschübe gekürzt ist, hat einen Mangel: Die Regierung stützt nach eigenem, amtlichem Bekunden einen "Aufholprozess", den es seit 1996 nicht mehr gibt.

Claus Noé

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false