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Die riesigen Ausstellungshallen sind nicht renoviert, die Einrichtung improvisiert.

© dapd

Architektur: Bastel dir die Welt, wie sie dir gefällt

Allein die Modelle sind schon eine Kunst für sich. Pappkarton und Papierserviette: Wovon Architekten träumen und warum sie so nicht bauen – zwei Berliner Ausstellungen.

Es ist ein Gefühl wie bei „Alice im Wunderland“: völlig verrutschte Proportionen. Riesig die Halle im ehemaligen Kraftwerk Mitte, überall bröckelnder Beton, rostender Stahl, man geht über quietschende Eisentreppen, ein seltsames Summen und Brummen liegt noch in der Luft, als sei ein wenig Elektrizität hängen geblieben. Überall stehen Liegestühle herum, wie an Deck eines Ozeandampfers, eine Lichterkette funzelt, übrig geblieben von wer weiß welchem Fest. Klein ist der Mensch in diesen Räumen. Normalerweise kommen die Besucher zum Techno-Club Tresor nebenan. Doch allein diese Halle ist schon ein Erlebnis.

Eröffnet wird hier die Ausstellung „Realstadt“, die der österreichische Kurator Martin Heller im Auftrag des Bundesbauministeriums zusammengestellt hat – und die Perspektive kehrt sich um. Plötzlich ist man Gulliver im Lande Lilliput, besser: im Spielzeugland Deutschland. Blickt über Heidelbergs sanfte Hügel, über Magdeburgs Stadtbrachen, über Häfen und Bahnhöfe, Flugplätze und Wohnquartiere, Einzelbauten, Fantasiebauten, eine Deutschlandreise wie im Vogelflug. Dabei sind es nur Modelle, 250 Architekturmodelle, aneinandergereiht auf langen Tischen, wie eine Miniaturstadt mit höchst unterschiedlichen Maßstäben.

Allein diese Modelle sind schon eine Kunst für sich. Da gibt es die gebastelten aus Pappkarton und die High-Tech-Versionen aus Plexiglas, Gottfried Böhm kreierte einst seine Neustadt für Aachen wie aus Knetgummi, Schüler verwenden Uhu-Dosen und anderes Recycling-Material. Es gibt die ernsthaften Versionen und die verspielten, die polemischen und die propagandistischen.

Karsten Konrad trauert den abgerissenen DDR-Ikonen wie dem Ahornblatt vom Alexanderplatz nach, indem er sie maßstabgetreu rekonstruiert, Jens Reinert baut Tunnel, Tiefgaragen, Treppenhäuser aus Spanplatten nach, macht Nicht-Räume zu Raumvolumina. Larissa Fassler lässt nur die Räume gelten, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, Aktivisten von Mediaspree versenken basteln sich ihre Welt, wie sie sie gern hätten – böse Hochhäuser hier, idyllische Nachbarschaftskommunen dort. Der Schlossplatz in 50 Jahren ist umrahmt von Hochhäusern, und das rekonstruierte Stadtschloss befindet sich bei J. Michael Birn gerade in Zwischennutzung.

Weniger nüchterne Bestandsaufnahme als Wunschkonzert, Gedankenflug soll diese Ausstellung nach dem Willen der Kuratoren sein, weshalb sie ihr den Slogan „Wünsche werden Wirklichkeit“ beigestellt haben. Utopisches Potenzial ist tatsächlich vorhanden, allein schon durch den riesigen ungenutzten Raum des Kraftwerks, das Hausherr Dimitri Hegemann als Kunstort etablieren will und bislang im Rohzustand belassen hat. So bilden die Kisten, in denen die Modelle angeliefert wurden, das Mobiliar für die Bar, und die ist aus roten Getränkekisten gestapelt, eine Skulptur für sich. Kommt noch ein Jahrmarktswagen als Kassenhäuschen hinzu, und fertig ist die mobile Ausstellung, die genauso schnell wieder verschwinden und weiterwandern könnte, wie sie aufgetaucht ist.

Wie gestrandetes Treibgut wirkt das Sammelsurium der Modelle im weiten Raum: so vielfältig, wie Baukultur eben ist in Deutschland. Insofern ist der politische Mehrwert des federführenden Ministeriums durchaus kalkuliert, zumal auch die Preisträger des 2009 ausgelobten „Nationalen Preises für integrierte Stadtentwicklung und Baukultur“ präsentiert werden. Und doch sind die glatten Bauträger-Modelle die ärgerlichsten, weil an ihnen der Präsentationswille so deutlich abzulesen ist. Deutlich geerdeter hingegen ein Stadtmodell aus Wetzlar, an dem die Anwohner selbst mitwirken konnten und ihre Vorschläge zur Stadterneuerung an ihre Häuser klebten. Da ist zu lesen, das Haus sei zu hellhörig, die Giebelwand feucht, das Kabelfernsehen läuft nicht und Bäume verdunkeln die Räume – ganz alltägliche Probleme, die man Modellen sonst selten ansieht. Vielleicht ist dies der eigentliche utopische Gedanke der Ausstellung: Dass es darauf ankommt, was sich die Bewohner wünschen, wenn man über Architektur reden will in Deutschland. Fürwahr ein selten gespieltes Wunschkonzert.

Utopien ganz anderer Art sind derweil in der BDA-Galerie in Charlottenburg zu erleben. Es geht um ein Quartier, das als Modell durchaus Chancen auf Aufnahme in die „Realstadt“ hätte, so problematisch und einzigartig wie es ist: das Berliner Kulturforum, über dessen Platz-Gestaltung sich Generationen von Architekten und Stadtplanern die Köpfe zerbrochen haben, Wettbewerbe und Masterpläne inklusive. Durchaus charmant der Gedanke, hier noch mal ganz neu zu beginnen.

Die Vorgabe des Architektenbundes hieß: 40/40. Vierzig auf vierzig Zentimeter – das ist die Größe einer Papierserviette. Oder eines Stofftaschentuchs. Alles, was gerade zur Hand ist und zum Ideenträger taugt. So eben mal hingescribbelt beim lebhaften Gespräch in der Kneipe sind zwar die wenigsten Entwürfe, die die BDA-Galerie präsentiert. Von wegen Rotweinflecken und und Kugelschreiber – die meisten Architekten drucken lieber am Computer aus. Vom Geist her aber ist das Ergebnis durchaus kneipenideentauglich. Und zuweilen recht utopisch.

Die Lust am Kritzeln, Brainstormen und Herumspinnen – vielleicht ist sie es, die die etwas festgefahrene Architektenszene wieder in Bewegung bringen kann. Die Architekturbiennale von Venedig hatte im Deutschen Pavillon schon so etwas Ähnliches versucht, hatte Din-A-4Papier-Ideen zum Thema Sehnsucht eingefordert und meist doch nur Blätterrascheln bekommen. In der BDA-Galerie ist deutlich mehr Witz am Werk. Da denkt sich Eike Becker abschmelzende Eisberge über dem Kulturforum, andere träumen von Wald und Trampelpfaden. Auch Giraffen und Zebras sind vorstellbar, Berg- und Talfahrten, Sandwüsten, Eislaufflächen. Friedrich von Borries will einfach nur Löcher bohren mit dem Presslufthammer, Samen aussäen und abwarten. Wird schon Gras drüber wachsen.

Seriös ist das nicht unbedingt, eher sympathisch versponnen und verspielt. Aber wer sagt, dass, wo die Fantasie abhebt, der Verstand auf der Erde bleibt? Der Architekt Adam Caruso von Caruso St. John aus London diagnostiziert in der Eröffnungsdiskussion, dass die Institutionen am Kulturforum viel eher zur Zusammenarbeit und Öffnung als zu Neubauplänen animiert werden müssten. Allein schon, dass Kunstbibliotheks-Direktor Moritz Wullen als Vertreter der anliegenden Museen unter Freiraumgestaltung vor seiner Haustür die „Pflege von Radieschenbeeten“ versteht, ist eine Erkenntnis, die an Fantastik und Skurrilität mit vielen der Entwurfsspinnereien locker mithalten kann. Eingereicht wurden für „40/40“ übrigens genau 39 Entwürfe.

„Realstadt“, Kraftwerk Mitte, Köpenicker Str. 70, bis 28. November, tägl. 10-20 Uhr. „Vierzigaufvierzig“, Kulturforum 40/40. BDA-Galerie, Mommsenstr. 64, bis 21. Oktober, Mo, Mi u. Do 10-15 Uhr

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