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Architektur: Herzkammer des Wissens

Sehen Bibliotheken in der Ära des Internet eigentlich anders aus als früher? Sie sind analoge Oasen in digitalen Zeiten, beliebt und bevölkert, aber verändert das ihre Architektur? Eine Erkundungstour durch die neuen Lesesäle der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden.

Noch liegt der Eingang auf der Rückseite, an der Dorotheenstraße. Von hier aus war früher die Bibliothek der HumboldtUniversität zu erreichen, die als Untermieter im Haus der Preußischen Staatsbibliothek logierte. Inzwischen gibt es Max Dudlers Bibliotheksneubau nur wenige Minuten Fußweg entfernt; vom ersten Tag an war das Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum überlaufen. Das dürfte jedem Politiker die Augen dafür geöffnet haben, wie wenig Bibliotheken im Internetzeitalter an Attraktivität verloren haben.

Ohnehin ist ein fortwährender Zuwachs an Bibliotheksbauten zu beobachten, in Deutschland eher in Form von Universitätseinrichtungen, in den Niederlanden oder in Skandinavien als Stadt- und Stadtteilbibliotheken. Längst haben sie sich zu Orten der Kommunikation und der Gemeinschaft entwickelt, sind Treffpunkte für Aktivitäten aller Art. Dennoch bildet das Buch den Anker, an dem sich andere Bedürfnisse und Betätigungen anlagern können. Ohne Bücher, ohne ihre Präsenz und die Ausleihe als Kerngeschäft jeder Bibliothek, scheint die analoge Oase in digitalen Zeiten nicht zu funktionieren.

Seit einer Woche sind die neuen, vom Stuttgarter Architekten HG Merz gestalteten Lesesäle der Staatsbibliothek Unter den Linden geöffnet. Betrieb herrscht in der Osterwoche allerdings noch nicht. Man meint, ein anderes Tempo, einen anderen Erregungszustand zu spüren als im Grimm-Zentrum. Nicht gemächlicher, eher gesetzter, gelassener, vielleicht dem höheren Durchschnittsalter der Nutzer geschuldet. Der Allgemeine Lesesaal, das Kernstück der seit 2004 in Angriff genommenen Generalsanierung der alten Staatsbibliothek, bietet 96 Arbeitsplätze, angeordnet zu zwölft an je vier langen Tischen zu beiden Seiten der Treppe aus dem Zugangsgeschoss. Die Tische befinden sich auf der zweiten Ebene, nicht überwölbt wie im einstigen runden Lesesaal, sondern kantig gerahmt von einem hohen gläsernen Aufbau nach Art einer überdimensionalen Ausstellungsvitrine. Umlaufend zwei Galerien mit Bücherregalen: Hier sind die Freihandmagazine mit den wichtigsten Informationsquellen zu allen Fachgebieten angeordnet. Die untere Galerie wartet mit übermannshohen Regalen auf, die obere mit flacheren, darüber sitzt der gläserne Aufbau.

96 Plätze, das ist nicht viel. Nimmt man den subjektiven Eindruck als Maßstab, den das enorme Raumvolumen hervorruft, ist es sogar erstaunlich wenig. Freilich gibt es weitere 160 Plätze in den Seitenkabinetten, 140 für Forscher und 20 abschließbare Kabinen, „Carrels“ genannt. Das Englische als lingua franca der Wissenschaft ist allgegenwärtig, die Stabi ist – zu Recht – zweisprachig ausgeschildert.

Nun ist sie in erster Linie keine Präsenz-, sondern eine Leihbibliothek. „Nur“ 130 000 der elf Millionen Bücher und Zeitschriften des Gesamtbestandes sind Unter den Linden frei zugänglich und nur vor Ort einzusehen. Der klassische StabiKunde bestellt seine Wunschbücher längst online und holt sie sich für vier Wochen nach Hause. Nur die Wissenschaftler, die beständig weitere Quellen erschließen, die sich regelrecht durch die Bestände wühlen, lassen sich für längere Zeit an reservierten Plätzen nieder oder bauen in ihrem „Carrel“ Handapparate auf. Vor allem für sie wird der Aufwand an Arbeitsplätzen betrieben, vor allem ihnen wird der hohe Raum zum Freiraum des Denkens. Und vielleicht noch für jene Nutzer, die bestellte Bücher erst einmal durchblättern wollen, um zu entscheiden, ob sich die Schlepperei nach Hause lohnt. Bücher sind schwer, im Internetzeitalter ist das den Lesern bewusster denn je.

Büchermagazin oder Leselandschaft, Forschungseinrichtung oder populäre Mediathek: Bibliotheken sind vielseitig geworden

Kräftige Farben finden sich immer wieder, zum Beispiel im badezimmergrünen seitlichen Zugang von der Dorotheenstraße, mit Buchausgabe, Garderobe und Ruhebereich.
Kräftige Farben finden sich immer wieder, zum Beispiel im badezimmergrünen seitlichen Zugang von der Dorotheenstraße, mit Buchausgabe, Garderobe und Ruhebereich.

© Mike Wolff

Wie verändert das Internet Bibliotheken? Die Antwort, bestätigt von allen Nutzerzahlen und Statistiken, lautet: erstaunlich wenig. Beide Informationsformen ergänzen sich, einschließlich der wohl wichtigsten Verbesserung für die Bibliotheksangestellten wie für die Nutzer: des Onlinekatalogs. Dennoch hat sich an der Grundkonzeption einer Staatsbibliothek nichts geändert; das architektonische Konzept aus der Zeit der Magazinbibliotheken, die als neuartige Bauaufgabe im 19. Jahrhundert reüssierten, ist bis heute mehr oder weniger das gleiche. Damals entstanden die eindrucksvollen Bibliotheksbauten von Paris, London, Boston, New York – mit dem Lesesaal als Herzkammer und den Magazinen ringsum, obendrüber und unten im Keller, aus denen die gewünschten Druckwerke in den Lesesaal zum Besteller spediert werden.

„Die aktuelle Architektur weist Bibliotheken stärker als je zuvor eine Rolle als soziale Räume für Information und Wissen zu“, schreibt der Direktor des Grimm-Zentrums, Andreas Degkwitz. In vielen universitären Neubauten lässt sich das beobachten, bis hin zu Einbußen der Funktionstüchtigkeit, wie an Norman Fosters Geisteswissenschaftlicher Bibliothek der FU, „The Brain“ genannt, bereits bemängelt wurde. Für die Staatsbibliothek gilt das nicht. Sie wahrt die Tradition, die sie ohnehin in ihrem äußeren Erscheinungsbild betont. Die neu geschaffenen Säle mögen zeitgemäße Interpretationen des bewährten Lesesaalkonzepts sein, einen neuen Typus repräsentieren sie nicht.

Warum auch: Mit den willkommenen Hilfsdiensten des Internets sind die sozialen Nebenerscheinungen der Bibliothek eher seltener geworden. Die endlosen Wartezeiten im Umkreis der Buchausgaben oder der Cafeteria sind Vergangenheit – und mit ihnen manche Gelegenheit zum Knüpfen zarter Bande, wofür Hans Scharouns Stabi-Neubau am Kulturforum zu West-Berliner Zeiten berühmt war. 1972 bis 1979 erbaut, war sie als offene Leselandschaft angelegt worden. In der Stabi Unter den Linden wird es erst 2016 wieder eine Cafeteria geben.

Vom bloßen Lesen abweichende Bedürfnisse lassen sich in der auf konzentrierte Geistesarbeit ausgelegten Stabi jedenfalls kaum befriedigen. Ganz anders die mittlerweile in ganz Frankreich errichteten, architektonisch anspruchsvollen Mediatheken, die ihre enorme Anziehungskraft gerade den einst verpönten oder nicht möglichen Bibliotheksnutzungen verdanken: Musik hören, Videos gucken oder einfach in bequemen Fauteuils tagträumen. Stadtbibliotheken wiederum, ob in Amsterdam oder Kopenhagen, bieten sich für Ganztagsaufenthalte mit preisgünstigen Restaurants an.

Architektonisch führt das zu einer veränderten Hierarchie der Räume. Nicht mehr der Lesesaal bildet das Zentrum, sondern ein frei fließender Raum mit Sitz- und Leseinseln, von Balkons und Terrassen umrahmt, ein öffentlicher Ort ohne den Kaufzwang der bisweilen nicht unähnlichen Shoppingmalls. In Reißbrettstädten wie dem holländischen Almere ist die weiträumige Bibliothek von vorneherein als säkulares Gemeindezentrum angelegt. Vom Malkurs bis zur Musikgruppe, alle finden Platz. Bücher lassen sich en passant ansehen und spontan entleihen.

Der neue, rechteckige Lesesaal im Zentrum der äußerlich unveränderten Berliner Staatsbibliothek setzt sich seinerseits bewusst von seinem Vorgänger ab, dem kreisrunden Kuppellesesaal Ernst von Ihnes, des Lieblingsarchitekten Kaiser Wilhelms II. Der Entwurf wurde in elf Jahren Bauzeit bis kurz vor Kriegsbeginn 1914 verwirklicht. So gläsern-schwebend nun das Merz’sche Glasdach auch scheinen mag, es gibt nicht den Blick in den Himmel frei, sondern dient, durch Stoffbahnen gefiltert, der gleichmäßigen Verteilung des Lichts. Nur an einer Schmalseite dringen Sonnenstrahlen durchs Glas.

Der angrenzende Rara- und Musiklesesaal, der an der Nordseite die klassizistischen Säulen des Altbaus integriert, ist künstlich beleuchtet, wegen der empfindlichen Bestände. Auch hier wieder Galerien mit Freihandbeständen, die dem Raum etwas Wohnliches geben und ihn zum Lesezimmer machen. Gewöhnungsbedürftig ist allerdings der grellrote Teppichboden, auf dem sich die orange gepolsterten Lesesessel dissonant ausnehmen. Dazu der badezimmergrüne Zugang von der Dorotheenstraße, mit Buchausgabe, Garderobe und Ruhebereich. Ein Provisorium, bis zum für 2016 avisierten Abschluss der Generalsanierung.

Was der Nutzer nicht sieht, ist die technische Ausstattung, die einen Gutteil der zu Baubeginn aus dem Bundeshaushalt bewilligten 406 Millionen Euro verschlungen haben dürfte. Ein Digitalisierungszentrum, anderthalb Kilometer Buchförderanlagen, Tresorräume über zwei Tiefgeschosse, Klimatisierung überall: Man vertraut darauf, dass der Bau den Stand der Technik repräsentiert. Und dass er über etwas verfügt, was für das Flughafen-geschädigte Berlin zum Reizwort geworden: eine funktionierende Brandmelde- und Entrauchungsanlage. Sie sei mit rund 1500 verschiedenen Szenarien getestet worden, heißt es vonseiten der Staatsbibliothek. Ihr Altbau ist nun wieder geöffnet. Bücher zu lesen, so dessen Botschaft, bleibt weiterhin zeitgemäß.

Eingang: Dorotheenstr. 27. Allgemeiner Lesesaal Mo–Fr 9–21, Sa 10–19 Uhr. Infos: www.staatsbibliothek-berlin.de

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