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Kultur: Architektur: Das Bürgertheater als Weltkugel

Architektur hat viel mit Medien und Moden zu tun, wie die derzeitige "Retro-Fashion" beweist. Die angeblich machbaren, menschheitsbeglückenden Visionen der Architektur der sechziger und siebziger Jahre, von Archigram, Yona Friedman, Plug-in-City und anderen, erfreuen sich neuerdings wieder großer Bewunderung.

Architektur hat viel mit Medien und Moden zu tun, wie die derzeitige "Retro-Fashion" beweist. Die angeblich machbaren, menschheitsbeglückenden Visionen der Architektur der sechziger und siebziger Jahre, von Archigram, Yona Friedman, Plug-in-City und anderen, erfreuen sich neuerdings wieder großer Bewunderung. Unbestrittene Stars aber sind die Japaner - und zwar damals wie heute. Zogen ehedem "Metabolisten" wie Kenzo Tange mit Ideen wie der Überbauung der Bucht von Tokio die Öffentlichkeit in den Bann, so ist es heute die fetzig-exaltierte "Partisanenarchitektur" in Nippons Städten. Auch wenn einem nur ein Berliner Beispiel japanischer Baukunst - das "Volksbank"-Gebäude am Landwehrkanal von Arata Isozaki - auf Anhieb einfallen mag: Dass das Interesse an Japan immens gestiegen ist, veranschaulicht nicht zuletzt die derzeitige Ausstellung zu Shigeru Ban in der Berliner Galerie Aedes East.

Die ganze Widersprüchlichkeit der Moderne kommt im japanischen Bauen zum Ausdruck, offeriert sich als ein Vexierspiel aus unmittelbar Bekanntem und absolut Fremdem. In der - für unsere Augen - amorphen "Struktur" der japanischen Metropole haben die Architekten seit Ende der siebziger Jahre zunehmend erkannt, dass eine vermittelnde Beziehung zwischen Gebäude und Stadt nicht mehr existiert. Die Stadt habe kein plausibles Gefüge mehr, sei stattdessen Flickwerk geworden, oder - mit Hajime Yatsuka - ein "organloser Körper".

Eine introvertierte, defensive Baukultur ist die naheliegende Konsequenz. So zeugen die meisten Entwürfe von einer merkwürdigen Umkehrung des Städtebaus: Innerhalb selbständiger Gebäude werden paradoxe Stadtmodelle geschaffen. Die Welt ist aufs neue erschaffen worden. Nur perfekter: eben völlig rund - und inmitten einer Umgebung, die als Ganzheit sowohl technisch beherrscht als auch ästhetisch vermittelt wird. Das Kulturzentrum von Shonondai in einem der tristen Vororte Tokyos stammt von Itsuko Hasegawa, Japans wohl renommiertester Architektin. Das Bürgertheater als Weltkugel, die eingestreuten "workshops" als Anhäufung von Kristallen: kein Wunder, dass ihr spektakuläres Projekt sich seit Jahren einer internationalen Reputation erfreut. Als Frau in einer Reihe von Männern steht sie an der avantgardistischen Front.

Orientierung an der Umgebung wird in den seltensten Fällen gesucht; eine Kontextbestimmung findet kaum statt. Immer aber ist, zumindest implizit, die urbane Landschaft ein Thema. Jedoch nicht in der Flucht vor dem städtebaulichen Chaos, sondern im Aufspüren von Zwischenräumen, von Nischen. Die Wiederentdeckung und Neuinterpretation der engen Beziehungen zwischen Natur und Architektur ist eine dieser Lücken, durch die die Architekten den heutigen urbanen und kulturellen Zwängen zu entkommen trachten.

Was dabei entsteht, ist erstaunlich, wenn auch nicht immer erbaulich. Der Autodidakt Tadao Ando etwa schafft vorsätzlich "erschwerte Bedingungen" in nacktem Beton, um den Bewohnern Gelegenheit zur Wiedererlangung von "Würde und geistigem Frieden" zu geben. Und der einzelgängerische Kazuo Shinohara strebt nichts Geringeres an als "die Ewigkeit", die "Stufe Null", den "reinen, fundamentalen Raum" - wobei es ihn verdrießt, dass er auch für dieses Abstraktum noch konkrete Wände braucht.

Aller Inkompatibilität zum Trotz verbindet solche Entwürfe der unbedingte Wille, den jeweiligen Ort zu prägen. Dabei kommen selbst die radikalsten Künstler nicht ohne Wurzeln in jenem kulturellen Humus aus, dem sie entstammen. Neuere Untersuchungen des japanischen Raumkonzeptes und -verständnisses offenbaren eine erstaunliche Parallele zu den althergebrachten (Verhaltens-)Mustern. Sie zeigen einen engen Verbund, mental und physiologisch, mit den genuinen Riten der Gesellschaft von Shinto bis heute. Zwei Bänder laufen augenscheinlich, auch im Raum, gleichberechtigt nebeneinander: gnadenlose, technologiebesessene Neuzeit auf der einen, uneinnehmbare Bastionen der Tradition auf der anderen Seite, mit Regularien, die auf uns heute exotisch, aber eben deswegen so anziehend wirken.

Für Riken Yamamoto ist Bauen ein probates künstlerisches Mittel, den gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen. Erklärtermaßen glaubt er, dass die Schöpfung von Architektur gleichbedeutend sei mit dem Aufstellen von Hypothesen. Aber zugleich mahnt er Skepsis an, "wenn eine Hypothese sich anschickt, wie das Ziel auszusehen". Was auf den ersten Blick wirkt wie eine unscheinbare, betongraue Architektur, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine sinnfällige Intervention. Als Vorschlag für eine erweiterte Form des Zusammenlebens versteht Yamamoto seine Hotakubo-Wohnsiedlung. Hier blitzt ein kollektivistisches Ideal auf, das die traditionelle Vorstellung von der Familie als Kern der Gesellschaft zu überwinden sucht.

Während die konventionelle Stadtplanung von einem wie auch immer gearteten Gesamtkonzept ausgeht, das die Rahmenbedingungen für die jeweilige Architektur definiert, basiert Yamamotos Projekt "Inter-Junction-City" auf einer gegenteiligen Annahme: Die individuellen Gebäude werden erstellt, bevor die Stadt entsteht. Insofern muss jedes Gebäude in sich die Essenz der Stadt beinhalten. Was hier bausteinartig entsteht, ist ein intellektuelles Vexierspiel, das auf lebensweltlichem Pragmatismus basiert: eine Art "Stadt", die durch einen labyrinthischen, Stück um Stück erweiterten Durchgang strukturiert wird, wobei niemand weiß, wie deren ultimative Gestalt später einmal aussehen wird.

Gibt es so etwas eine gemeinsame Linie innerhalb der japanischen Avantgarde? Sie protestiert mit ihrer Arbeit gegen alles, was laut und hektisch ist im neuen Japan, was zu schäbig ist, zu oberflächlich und konsumorientiert, also in ihrer Sicht gemein und menschenunwürdig. Sie lehnt sich - vermeintlich - auf gegen das Chaos, die Anarchie des Bodenmarktes, das zerstörerische Durcheinander in Japans großen Städten. Sie setzt dagegen Zeichen der Besinnung und schafft Räume von klösterlicher Abgeschiedenheit.

Dabei beherrscht kein Dogma das Werk der Avantgarde, weder die rigide internationale Moderne, noch ein entleerter Traditionalismus. Vielmehr folgt jeder seiner eigenen Philosophie. Kein Stil, kein Kodex, nicht einmal ein Konsens - es sei denn derjenige, dass die Welt ziellos und die Stadt amorph und unerträglich geworden seien, worauf es mit Architektur zu reagieren gälte.

Die Mehrzahl der heutigen japanischen Architekten plädiert für eine radikale Rückkehr zum Subjekt. Der Aufruf lautet implizit: Man möge nicht nach ewigen Antworten, nach einem Stil suchen, sondern die - von Fall zu Fall - richtige Lösung für eine spezifische Aufgabe. Dabei bleibt ihr Stadtbegriff jedoch weitgehend offen: Sind die äußeren Formen, die materielle Gestalt der Stadt, oder sind ihre Atmosphäre, ihre auch durch den Raum beeinflussten Assoziationsketten die Stimuli dieser Künstler? Viele von ihnen gehen offenkundig davon aus, dass die Metropole ein Mosaik von Raumfragmenten ist. Hier spiegelt sich ein heilloses Missverständnis: Als Zustandsbeschreibung oder als philosophische Reflexion mag das Urteil angehen, als Zukunftsprojektion jedoch ist dies für den Architekten, den Gestalter der Umwelt, wohl kaum eine taugliche Strategie. Das "Begraben der Stadt in der Architektur", wie es Itsuko Hasegawa apodiktisch in Worte kleidet - es kann nicht funktionieren. Ohne es zu wollen, redet die japanische Avantgarde einer weiteren Zersetzung der Stadt das Wort - und bietet dann (und dafür) ihre Ideallösungen feil.

Zwar beinhalten ihre Werke ungeahnte Qualitäten: Spannendes und Schönes, Abwegiges und Asketisches, Ephemeres und Erregendes. Gleichwohl könnte es sein, dass all dies sich schnell überlebt. Dann bleibt nur Hoffnung - auf die nächste Retro-Mode.

Robert Kaltenbrunner

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