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Glashaus

© Roland Halbe

Architektur: Mein wunderbarer Glassalon

Häuser, ganz aus Glas: Heute gelten beim Häuserbau andere Prämissen, man benötigt Dämmstoffe, Holz und Ziegel. Oder vielleicht doch? In Stuttgart hat der Ingenieur Werner Sobek ein berüht gewordenes Bürohaus gebaut - vier Geschosse mit Wänden nur aus Glas. Aber wie wohnt es sich dort?

„Ohne einen Glaspalast ist das Leben eine Last!“, hatte der Dichter und skurrile Visionär Paul Scheerbart als Inschrift für den gläsernen Pavillon gereimt, mit dem sein Freund Bruno Taut auf der Werkbundausstellung 1914 in Köln die Bauweise der neuen Zeit demonstrieren wollte. Scheerbart war wie viele der Baumeister der aufkommenden Moderne vom Baustoff Glas fasziniert. Die Errungenschaften der Eisenkonstruktionen und die Fortschritte in der Glasproduktion sollten nicht länger Gewächshäusern, Passagendächern und Bahnhofshallen vorbehalten bleiben. Das Primat für Licht, Luft und Sonne als Credo der den wilhelminischen Muff bekämpfenden Avantgardearchitekten sollte für alle Bauaufgaben gelten. Scheerbart prophezeite sogar, das Wort Fenster werde aus dem Lexikon verschwinden, wenn die Häuser ganz aus Glas seien.

So weit ist es nicht gekommen. Heute gelten andere Prämissen, und ausschließlich mit Glas lässt sich ökologische Architektur nicht bauen. Dazu benötigt man Dämmstoffe, viel Holz, auch Ziegel als Speichermasse. Oder vielleicht doch? In Stuttgart hat der Ingenieur Werner Sobek sich sein berühmt gewordenes Wohnhaus R128 gebaut, ein hochrechteckiger Kubus, vier Geschosse, mit Wänden nur aus Glas. Neu entwickelte Dreifachscheiben mit Filterschichten halten Strahlung ab und bieten hinreichend Wärmedämmung. Fotovoltaik auf dem Dach, ein Saisonwärmespeicher und ein intelligentes Lüftungssystem sorgen für eine Nullenergiebilanz. Doch die Frage liegt auf Zunge: Kann man im Glashaus wohnen?

Werner Sobek erprobt es mit Frau und Kind im Selbstversuch. Vier Geschosse sind offen miteinander verbunden. Nur die beiden Toiletten haben eine Tür. Wände gibt es kaum, keine Fensterläden, keine Vorhänge.

Wenn sich in diesem faszinierenden Haus, dem die Stuttgarter Innenstadt zu Füßen liegt, trotz grandioser Aussicht bestimmt 95 Prozent der Menschen nicht wohlfühlen würden, dann deshalb, weil es keinerlei Geborgenheit und Intimität bietet. Einsehbar ist das Haus höchstens aus größerer Entfernung per Fernglas, doch man lebt wie im Freien. Mitten in der Natur, mitten im Wettergeschehen. Der Mond ist Bettnachbar und Regenschauer scheinen geradewegs durchs Wohnzimmer zu fegen. Am Abend sitzt man gerne im Dunkeln in der Badewanne, wenn die Stadt heraufleuchtet.

Es ist der amerikanische Traum von der Villa hoch über Los Angeles, wie ihn Julius Shulman 1958 ikonenhaft fotografiert hat, das Hochgefühl des in die Weite schweifenden Blickes, die Beherrschung von Wind und Wetter durch moderne Bautechnik, verbunden mit der Ästhetik des Glashauses in der Nachfolge Mies van der Rohes mit ihrer aufs Äußerste reduzierten Materialität. Und es ist die Faszination, die das Augentier Mensch empfindet, wenn durch Transparenz Grenzen aufgehoben sind. Dieses elementare Bewusstsein, die lebensbedrohende Natur besiegt zu haben, wenn man im T-Shirt im Warmen steht und ringsum der Schneesturm tost.

Doch der Mensch hat auch ein Unterbewusstsein, ein irrationales Gefühlsleben, Instinkte. Er ist ein Fluchttier, das den Schutz und die Geborgenheit eines Nestes sucht. Der Transparenzbegriff der Moderne, den die Theoretiker Colin Rowe und Robert Slutzky von der simplen Durchsichtigkeit zum vielschichtigen Raum erweitert haben, steht dem entgegen. Schutzlos offene Räume, fließende Raumgrenzen, die eine Gewissheit über den Zustand der räumlichen Umgebung ausschließen, verunsichern den Menschen. In diesem Punkt ist die Moderne mit der menschlichen Natur nicht kompatibel. Abstraktion und Einfühlung hat Wilhelm Worringer die widerstrebenden Tendenzen genannt.

Sicher gibt es Menschen, rational veranlagte zumeist, die sich vom vollkommen transparenten Haus faszinieren lassen und sich darin wohlfühlen, die die „sinnliche Sicherheit, diese Vertrauensseligkeit gegenüber der Außenwelt, dieses von jeder Problematik freie Sichwohlfühlen in der Welt“ (Worringer) erleben können. Helmut Jahns Hochhaus am Potsdamer Platz ist ein Ort, an dem man diese Konstitution benötigt. Die Büros haben gläserne Außenwände bis zum Boden. Die Aussicht auf das Getriebe der Stadt ist berückend und mag so manchen von der Arbeit abhalten. Abends wird das Haus zum leuchtenden Setzkasten, in dem die Mitarbeiter ihr Tagwerk vor aller Augen verrichten. Das Vertrauen in die Glaswand ist nie ganz hundertprozentig, die Angst vor dem Sturz in die Tiefe latent. Ein leichter Schauer, gewiss. Wem das nicht geheuer ist, der mag gegenüber in Hans Kollhoffs Backsteinhochhaus arbeiten. Es hat Zimmer mit soliden Wänden und ordentliche Fenster, hinter denen man sich nicht wie auf dem Präsentierteller vorkommt. Doch wer kann sich seinen Arbeitsplatz schon danach aussuchen?

Seit der Gärtner Joseph Paxton 1851 für die Weltausstellung in London den revolutionären Glaspalast gebaut hat, wagen Architekten immer wieder den Versuch, sich vom traditionellen Stein auf Stein abzuwenden und die Abstraktion des Bauens bis zum Äußersten zu treiben. Mies van der Rohe entwarf die Neue Nationalgalerie als gläsernen Tempel. Sein Freund und Bewunderer Philip Johnson hat 1949 sein berühmtes Glashaus zum Wohnen gebaut – in dem er nie wirklich wohnen wollte. Jüngst hat Peter Grundmann, Architekt aus Neubrandenburg, den Versuch wiederholt und zwei Wohnhäuser mit gläsernen Wänden gebaut. Anders als bei Werner Sobek freilich gibt es drum herum dichte Vorhänge, mit denen sich die Bewohner vor den neugierigen Blicken der Rehe am Waldrand abschirmen können.

Längst sind Offenheit, Transparenz und Klarheit als Werte einer modernen Gesellschaft apostrophiert worden, mit denen man auch die wilhelminische, schwere, verzopfte Architektur als Sinnbild einer überkommenen Epoche überwinden könne. Mit seinem Privathaus diese Werte zu demonstrieren, ist allerdings kein verallgemeinerbares Bedürfnis. Hinzu kommt eine gewisse Sinnentleerung architektonischer Formen. Säule und Portikus gelten nach wie vor als Repräsentations- und Herrschaftssymbole, doch darüber hinaus weiß niemand mehr zu sagen, ob ein Glashaus besonders demokratisch ist, ein Hightech- Haus moderne Zeiten repräsentiert oder eine dynamische Blobarchitektur als utopisch zu gelten hat. Es kommt auf den Geschmack und die Konstitution des Einzelnen an. Das reinweiße Interieur, in dem nur die blonden Haare des komplett weiß gekleideten Hausherrn „stören“, ist ebenso wenig jedermanns Sache wie das jeden Schutz verweigernde Glashaus.

Was bleibt, sind Instinkte. Was vor fünftausend Jahren den Menschen prägte, hat vielleicht keine Gültigkeit mehr, doch es bestimmt nachhaltig das Unterbewusstsein der meisten Menschen. Mehrheitsfähig wird deshalb nicht das Glashaus sein, sondern die Behausung, die beides bietet: offene Räume für das bewusste Erleben von Licht, Sonne und freien Ausblick und im Hintergrund die Höhle für die Geborgenheit, den Rückzug in Ruhe und Intimität. Dass sich dieses Konzept mit dem prototypischen Ökohaus deckt, dessen Nordseite eher geschlossen und optimal gedämmt, dessen Südseite aber als großzügig verglaster Wintergarten für solare Energiegewinne ausgebildet sein sollte, ist ein Zufall, aber ein glücklicher.

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