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Architektur: Zonenrandermutigung

Seit 50 Jahren im Dienst der Volksbildung: der Ernst-Reuter-Saal in Reinickendorf. Foyer und Saal atmen noch die Eleganz der Fünfziger.

Das Rednerpult gibt es noch: ein schnittiges Modell in Jakobsmuscheloptik, echte Fifties, Holzlamellen im sanft gewellten Halbkreis, der sich nach unten verjüngt. Am 12. Januar 1957 soll Willy Brandt, damals noch Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, an dieses Rednerpult treten, um eine Versammlungsstätte zu eröffnen, deren Architektur vom Linoleumboden bis zur Tütenlampe idealtypisch den Aufbruchsgeist des Wirtschaftswunders atmet – und die der ganze Stolz des nördlichsten West-Berliner Bezirks ist: der Ernst-Reuter-Saal.

Vom Architekten Wilhelm Schäfer erbaut als Erweiterung des Reinickendorfer Rathauses, eine kühne Konstruktion, galt es doch, über den 800-Plätze-Saal einen viergeschossigen Verwaltungstrakt zu setzen. So befindet sich das Parkett nun in einer Betonwanne unterhalb des Straßenniveaus, 28 Meter messen die Spannbetonbalken, auf denen die Obergeschosse ruhen. Eine in Berlin bis dahin noch nicht gewagte Bauweise.

Vor den Gästen des Eröffnungsabends, darunter Paul Löbe und Otto Suhr sowie die Witwe des 1953 verstorbenen Namensgebers Hanna Reuter, hätte Willy Brandt sicher lobende Worte für die Bauleute gefunden. Und er hätte hoffnungsfroh in die kulturelle Zukunfts Reinickendorfs geblickt. Doch dann muss er kurzfristig absagen, und so tritt Bezirksbürgermeister Adolf Dünnebacke an das Muschelpult, um auszurufen: „Wenige hundert Meter von hier verläuft die Grenze, die uns ein abschreckendes Beispiel von staatlicher Bevormundung und Steuerung des geistigen Lebens bietet. So werden wir diesen Saal auch unseren Nachbarn aus der Zone zur Verfügung stellen und die unlösbare Verbundenheit mit den Deutschen jenseits der Grenze bekunden und verwirklichen.“ Dann spielen die Berliner Philharmoniker.

Heute werden wieder Musiker des Spitzenorchesters auf der Bühne sitzen, um das erste halbe Jahrhundert des Ernst- Reuter-Saals zu feiern: Die „Philharmonische Camerata Berlin“ spielt Mozart, Tschaikowsky, Haydn und Boccherini.

Das Programm passt ziemlich gut zum künstlerischen Anspruch, den man hier im hohen Norden der Hauptstadt vertritt. Sicher, Philharmoniker, zumal Berliner, kann man sich nur alle Jubeljahre leisten, aber das Bezirksamt und die Musikagentin Mireya Salinas bieten in dieser Saison auch noch die Kammerakademie Potsdam mit Andrea Marcon sowie unter dem Motto „Lieben Sie Schubert?“ eine Reihe mit Nachwuchsprofis an, die sich auf internationalen Wettbewerben erste Lorbeeren verdient haben.

„Unsere teuersten Tickets sind günstiger als das Programmheft beim Streisand-Konzert in der Waldbühne“, sagt Bezirksstadträtin Katrin Schultze-Bernd – und meint damit, dass hier der Auftrag der „Volksbildung“ noch so ernst genommen wird wie vor 50 Jahren. Kultur für alle eben. Darum gibt’s als Pausenverköstigung keine Lachshäppchen, sondern Wiener mit Brot, serviert von Kids aus einer Umschulungsinitiative.

Auch die Erneuerung der Beleuchtungsanlage wurde durch ein Jugendprojekt möglich. Im Übrigen aber ist hier noch alles wie in den Fünfzigern. Im Fall des Reuter-Saals hat sich der Fluch der leeren Kassen einmal als Segen erwiesen. Wer die Architektur der Nachkriegszeit liebt, gerät ins Schwärmen: Der mit Messingbändern verfugte Terrazzoboden! Die schwebende Freitreppe! Wilhelm Wagenfelds Lampentrauben!

Auch im hell getäfelten Saal sind alle Regeln der re-education beherzigt: Die Sitzreihen steigen stufenlos an, die Bühne dafür ist über breite Stufen direkt vom Zuschauerraum zu erreichen, wie auch in der Philharmonie gibt es keine Barriere zwischen Künstlern und Publikum. An die Rückenlehnen der grün bezogenen Sessel lassen sich kleine Tische einhängen: So wird der Konzert- ruckzuck zum Konferenzsaal. Denn multifunktional sollte er immer sein, ein Ort auch für Kreisdelegiertentreffen, Betriebsversammlungen, Schulkonzerte, Feierstunden für Sportler und ehrenamtliche Helfer. In einem engen Projektionsraum stehen uralte Filmvorführapparate. Wenn im Oktober die „Senioren-Kulturinitiative“ das Jubiläum auf ihre Art feiert, werden einige dabei sein, die sich gut an Kinoabende im Reuter-Saal erinnern können.

Als das Bezirksamt vor zehn Jahren aus Kostengründen seinen „Veranstaltungsdienst“ auflöste, nahmen einige rüstige Rentner die Organisation des Unterhaltungsprogramms selber in die Hand. Seitdem wird die leichte Muse von der „Senioren-Kulturinitiative“ gemanagt. Zur Nachmittagsveranstaltung am 11. Oktober hat sogar Reuter-Sohn Edzard sein Kommen zugesagt. Für Stimmung sorgt dann das „Salon Orchester Berlin“ mit seiner Revue „Frauen sind keine Engel – und die Männer sind alle Verbrecher!“.

www.ernst-reuter-saal.de

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