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Archive: Die Verdopplung der Welt

Aus der Kölner Katastrophe lernen: In einem Stollen im Schwarzwald lagert das kulturelle Erbe Deutschlands – ein Besuch.

Wie einer, der sein Kostbarstes im Haus in die unzugänglichste Ecke schiebt, ganz hinten in den Schrank, zu den Wintersachen ins Dunkel, so haben die Deutschen ihr kulturelles Erbe versteckt. Sie haben es seit 1975 einem Berg im Schwarzwald untergeschoben, der sich in der Nähe von Freiburg vor Urzeiten aufgeworfen hat. Mit Silber vor Augen haben Bergarbeiter einst einen Stollen getrieben, wo es sommers nach Wald und Harz riecht und im Winter schneit. Das Archiv im „Schauinsland“ ist ein stilles Versteck, dessen Eingang im Schneetreiben fast verschwindet.

Ein Gitter, ein Gang, und vollkommen sensationslos stehen die Fässer da, tiefgestapelt im Seitenarm eines blinden Stollens, damit eine mögliche Druckwelle sie nie erreicht. Darüber lagern 200 Meter Gestein, darüber Nadelwald, und noch am Himmel über dem Berg darf per Gesetz kein Flugzeug fliegen. Der Wert dieses Archivs kann nämlich nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Seit in Köln das Stadtarchiv eingestürzt ist, glauben das auch Skeptiker, die sich bislang fragten, warum der Staat jährlich drei Millionen Euro für den Betrieb und die fortlaufende Ergänzung eines Mikrofilm-Archivs ausgibt. Nach der Haager Konvention von 1954 war das als „Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten“ gedacht, obwohl doch die Wahrscheinlichkeit dieses Konflikts stetig gesunken ist. War das damals Paranoia oder Weitsicht? Der bewaffnete Konflikt ist nicht eingetreten. Die Mauer ist längst gefallen. Und doch zweifelt niemand mehr am Zweck des Archivs, niemand ruft mehr „Kriegsvorbereitung!“, seitdem sich mitten in der Kölner Innenstadt die Erde auftat und ein komplettes Stadtarchiv in einen Krater stürzte, der vor allem eine Erinnerungslücke bedeutet.

Hier im Hochschwarzwald lagern Kopien der wichtigsten und ältesten Dokumente, darunter die Baupläne des Kölner Doms. Auch Lothar Porwich, Sachbearbeiter Kulturgutschutz beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, hat über seine Beschäftigung zunehmend einsehen müssen, wie wichtig diese Dokumente sind. „Was wüssten wir zum Beispiel über das Dritte Reich, wenn wir nur die Erzählungen von Opa und Oma hätten?“ – „Fünf Prozent Wahrheit“, schätzt er. „Mehr nicht.“ Porwich, mit einem Helm auf dem Kopf im Schwarzwälder Stollen, ist immer wieder begeistert von der zeitlosen, effizienten Speichermethode und der wirtschaftlichen Lagerung. Von den Gesamtkosten fallen nur 30 000 Euro im Jahr auf die Lagerung im Stollen, sagt er, Sicherheitsmaßnahmen und Beleuchtung inklusive, es muss nicht einmal geheizt werden bei 75 Prozent Luftfeuchte und konstanten Temperaturen von 10 bis 12 Grad. Er ist auch begeistert von dieser einfachen, haltbaren Technik des Mikrofilms, die nicht innerhalb von ein paar Jahren veraltet. 16 Stellen im ganzen Land verfilmen seit Jahrzehnten die wichtigsten Dokumente, einer Auswahl der Landesarchivare folgend. Verfilmung nach Dringlichkeitsstufe 1, das sind Dokumente mit Unikatcharakter, je älter, desto wichtiger. Es sind Gründungsurkunden, Klosterakten, aber auch die Briefe Goethes. Die 35-Millimeter-Filme werden zu einer Münchner Firma transportiert, dort einen Monat lang klimatisiert, bis sie restlos bei 35 Prozent Luftfeuchtigkeit angekommen sind. Sie werden auf Teller gerollt, die Teller in Fässern gestapelt, verschraubt mit einem definierten Drehmoment, mit einem Kupferring zur Dichtung hermetisch verschlossen, und die Haltbarkeit ist garantiert für mindestens 500 Jahre.

Zweimal im Jahr, im Frühling und Herbst rollt ein mit rostfreien Edelstahltonnen bestückter Lastwagen hinter der Schwarzwald-Gemeinde Oberried den Berg hinauf. Ach, sagen die Oberrieder, es ist wieder nur die Informationsgesellschaft, sie schickt wieder eine Ladung Identität, von ihrem ursprünglichen Träger gelöst, auf Polyester aufgetragen, aufgewickelt, eingedost, schwarzweiß.

Das, würde der Medienphilosoph Vilém Flusser sagen, dessen Nachlass ebenfalls in das Kölner Loch sackte, ist ganz und gar zeitgenössisch. Informationen sind ja eigentlich ein Unding. Also kein Ding. Von ihrem Träger emanzipiert, kann Information zunehmend auf verschiedenen Medien gespeichert und transportiert werden, natürlich auch auf Mikrofilm. Die emanzipierte Information ist freier, als manchen lieb ist. Sie wird transportiert, kopiert, verloren, verarbeitet, und so ist sie, so Flusser, kein Endpunkt eines Arbeitsprozesses mehr, sondern immer auch wieder Ausgangspunkt für einen neuen.

Leider erhöht sich das Volumen der Informationen ständig, während ihre Dichte und Haltbarkeit abnimmt. Belege auf Thermopapier erleben nicht einmal die Steuererklärung, Papier zerstört sich durch seinen hohen Säureanteil selbst. Gleichzeitig sind die Trägermedien an Techniken geknüpft, die in ein paar Jahren schon nicht mehr lesbar sind. CDs, sagen Archivare, eignen sich höchstens zum Transport von Daten, nicht zu ihrer Archivierung. Das Netz ist ein Transportmittel, kein Speichermedium. Für die Vernichtung von Papier-Archiven braucht es Katastrophen, Kriege und Brände – für die Vernichtung der papierlosen Verwaltung nur die „Delete“-Taste.

In seiner Angst vor der Auslöschung, vor dem Verschwinden tut der Mensch merkwürdige Dinge: Er formuliert, packt und verschickt Botschaften an unbekannte Nachfahren, an die Überlebenden einer fiktiven Katastrophe und sogar an Außerirdische. Menschen vermauern bei der Grundsteinlegung Gegenstände in ihren Häusern, sie schickten eine Kapsel mit einem Popsong, einem Hirst-Kunstwerk und Ferrari-Farbe zum Mars, sie legen Sammlungen und Archive an, die sie überdauern sollen. Der Mensch macht Dinge gern haltbar, er pökelt und vergräbt, er dokumentiert und laminiert, er kauft sich eine externe Festplatte.

Schon bald nach der Geburt ihres Kindes beginnen sich junge Eltern mit einer Sammlung Milchzähne gegen den ersten Verfall zu stemmen. Sie legen Fotoalben an, vermerken in Tagebüchern Laune und Wetter. Der Mensch, er hadert mit seinem provisorischen Charakter. Er hätte gerne wenigstens eine Sicherungskopie. Und natürlich macht er dabei auch vor sich selbst nicht halt: Weil inzwischen auch Erbinformationen getrennt von ihrem Träger aufbewahrt werden können, eisen Männer ihre Samen ein, um dann irgendwann völlig unverfroren von sich selbst eine Kopie zu ziehen. Jungen Eltern wird empfohlen, gleich nach der Geburt Stammzellen aus Nabelschnurblut ihrer Kinder einzufrieren, die monatliche Miete sei gering im Verhältnis zu den Chancen: Noch zu entwickelnde Techniken könnten mit Hilfe der Erbinformation aus diesen Zellen mögliche Krankheiten mit möglichen Therapien heilen.

Ein Neustart für das Leben auf der Erde scheint möglich – und tief in einem Berg in Spitzbergen hat Norwegen im vergangenen Jahr eine internationale Lagerstätte für Pflanzensamen eröffnet. Dort soll nach dem Prinzip Noah aus allen Ländern ein Exemplar ihrer kultivierten Pflanzensamen gesammelt werden – für den Fall der Katastrophe, wie auch immer sie aussehen mag. Noah war vermutlich der erste prophylaktische Katastrophen-Archivar.

Seitdem es Sammlungen, Archive und Speicher gibt, ist ihr Problem der Mangel an Platz. Schließlich kann man nicht alles sammeln und auch nicht von allem eine Sicherungskopie anfertigen, bis die Welt verdoppelt ist. Die Versuche, auf möglichst kleinem Raum möglichst viel zu erzählen, haben die verschiedensten Formen angenommen: die Form der Kunst, als im 16. Jahrhundert ein Feinmotoriker über 100 Köpfe in einen Kirschkern schnitzte, der noch heute in Dresden zu sehen ist. Es nahm die Form einer technischen Erfindung an, als auf immer kleinere Computerchips immer mehr Daten passten, oder die Form des Weltunternehmens Sony, dessen Geschäftsmodell sich nicht mehr um ausgewählte elektronische Produkte gruppierte, sondern um die Möglichkeit der Verkleinerung an sich. Und zwar für alles.

Und wenn der Kirschkernschnitzer heute noch unter uns wäre, könnte er sehen, was hier im Schwarzwälder Stollen Unfassbares lagert: 820 Millionen Einzelaufnahmen auf 27 000 Kilometer Mikrofilm in 1380 Fässern. Es ist nichts weniger als der Versuch, ein ganzes Land zu fassen! Die Geschichte liegt im Negativ im „Zentralen Bergungsort“ des Landes.

Das kann natürlich nur lückenhaft sein. Lothar Porwich weiß auch, dass die Informationen in mehrerer Hinsicht unvollständig sind. „Farbe kommt“, sagt er. Gerade läuft eine Ausschreibung für ein Verfilmungsverfahren, um auch die Farbe auf Mikrofilm zu kriegen. Erst dann werden zum Beispiel bunte Änderungen in Grundbüchern sichtbar.

Aber bei jedem Umschreiben auf ein Medium, gehen eine Menge Informationen verloren, die im Original noch stecken. Da ist das Papier, das sich mit Proben auf sein Alter bestimmen lässt, die Farbe, die Größe. Dagegen wirken die Tonnen mit den Mikrofilmen seltsam blutleer. Sie sind nur die Notlösung.

Aber Porwich ist begeistert, wie einfach deren Lagerung ist. „Die drei Sicherheitssysteme überprüfen sich selbst.“ Ein Falltor schließt sich, sobald jemand unberechtigt im Stollen ist. Er kommt nur wieder heraus, wenn er sich mit dem Telefon bemerkbar macht, das mit der Polizei verkabelt ist.

Nur ein Mal wurde in den vergangenen dreißig Jahren Alarm ausgelöst. Man vermutet ein Kriechtier.

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