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Kultur: Archive im Untergrund

Der Münchner Kunstfund ist eine Sensation. Aber es gibt in Deutschland noch viel zu entdecken.

Von Caroline Fetscher

Luftbilder des besiegten Deutschland nach 1945 zeigen in der Regel die angegriffenen Städte. Man sieht Bruchstücke von Häuserwänden und Fassaden, Berge von Schutt. Jeder konnte, wie es die Familie Gurlitt aus Dresden tat, kurzerhand erklären, er habe „alles verloren“. Glaubwürdig klang es allemal, denn die Zerstörung durch alliierte Bomber war groß. Keineswegs aber lag das ganze Land physisch in Trümmern. Eine derart aufs Totale abzielende Behauptung lässt sich allein für die moralische Zertrümmerung aufstellen, der sich die Bevölkerung nun gegenübersah. Selbst in den schwer bombardierten Städten blieben manche Bauten oder Straßenzüge intakt oder waren nur teilweise beschädigt, dokumentiert aber haben Besatzer wie Besetzte vor allem das Eindrucksvollste, das Kaputte. Doch gerade die bürgerlichen Wohngegenden hatten die Alliierten bei den Angriffen auf das Land der Mörder teils bewusst ausgespart, da sie dort Bauten zu requirieren, sich nach der Niederlage einzuquartieren hofften. Und auf dem Land blieb ohnehin vieles stehen.

Über den Krieg gerettet, wie die Redewendung lautet, hatten die Deutschen folglich eine Unmenge von Hab und Gut. Manches davon, insbesondere Grund und Boden, stammte aus enteignetem Besitz der Verfolgten und Ermordeten. Bis heute sucht die verdienstvolle, 1951 gegründete Claims Conference nach den Raubgütern und deren Erben. Die Mehrheit der Besitztümer aller Art, die die Deutschen in Sicherheit gebracht hatten – Dokumente, Briefe, Bücher, Fotografien, Bilder, Möbel, Schmuck –, findet sich weiter in privaten Händen in den Haushalten.

So gibt es hier im Land in Kellern und Schubladen, auf Dachböden und in Koffern und Truhen eine Art zeithistorisches Untergrund-Archiv, einen unmessbar großen potenziellen Quellenschatz, der Geschichtswissenschaft und Staatsarchiven verschlossen ist. Jeder Karton voller Feldpostbriefe, jedes Album mit Wehrmachtsfotos, sogar fast jedes alte Schulheft stellt ein Zeitzeugnis dar. Vor einiger Zeit fand eine ältere Frau in Norddeutschland unter den Briefen ihrer Verwandten einen im munteren Ton gehaltenen Ostergruß von 1938, der vom Wetter, von den Obstbäumen hinterm Haus berichtet, von entzückenden Enkeln und Urlaubsplänen. Im selben Atemzug berichtet die Schreibende von der großen Begeisterung für den „Führer“ und einer Radioansprache zu „Großdeutschland“, auf die sogleich eine erstklassige Flasche Rotwein getrunken wurde. Man wisse wohl, fährt sie fort, dass nun die Arbeit erst richtig begänne, manch „zäher Bissen“ werde „zu schlucken sein, nur allein mit den vielen Juden und Halb- und Vierteljuden, aber der Anfang ist doch gemacht!“. Fassungslos las die Finderin, was ihre Verwandten einander im Plauderton anvertraut hatten.

Sie, die im Zweiten Weltkrieg ein Schulmädchen war, gehört zu denen, die das private Hausarchiv schätzen und es nicht zensieren, sondern sich der Wahrheit stellen. Immer wieder reicht sie Dokumente, etwa von Angehörigen, die kriegsrelevante Positionen hatten, weiter an die entsprechenden Archive und Sammlungen. Jedes Dokument, sagt sie, sei ein Geschenk im Namen der Aufklärung, so schmerzhaft es sein mag, so erhellend und klärend ist es, wirkt es.

Solcher Umgang mit dem privaten Erbe ist richtig und couragiert, er sollte sich längst mit normativem Anspruch durchgesetzt haben. Leider findet das Gegenteil häufiger statt. Beim Auflösen von Haushalten, bei Umzügen und im Erbfall verschwinden mit hoher Wahrscheinlichkeit noch immer mehr zeithistorische Quellen und Materialien, als man zu denken wagt. Der Gedanke, dass die Quellen in Mülltonnen und Abfallcontainern landen, ist erschütternd. Die Quellen zu vernichten, sie der Aufklärung vorzuenthalten, ist Gedächtnisvernichtung, ein Akt der zweiten, neuen Schuld. Caroline Fetscher

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