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Arnold Schönberg: Das große Ich

Was heißt hier neue Musik? Vor 100 Jahren wurde Arnold Schönbergs zweites Streichquartett uraufgeführt.

Im zweiten Satz („sehr rasch“) von Arnold Schönbergs legendärem zweitem Streichquartett op. 10 wird ein Wiener Volkslied zitiert, das eigentlich alles sagt. Über die Misere des Neuen wie des Alten, über den Fortschritt des Materials – um im Jargon zu sprechen – und seine gesellschaftliche Ächtung, über rührselige Melodien, schräge Töne und warum die ganze Zwölftonmusik eine Sackgasse bedeutet, an deren Ende unsere Komponisten sich bis heute ermüdlich-unermüdlich im Kreise drehen. Das Lied heißt „O du lieber Augustin, alles ist hin“ und verfügt über eine bemerkenswerte vierte Strophe, die damals jedes Kind kannte: „Jeder Tag war ein Fest,/ Jetzt haben wir die Pest!/ Nur ein großes Leichenfest,/ Das ist der Rest.“

Das „Fest“ ist in diesem Fall die herrschende Musikkultur, und mit „Pest“ wird beschrieben, was die Zweite Wiener Schule über dieselbe gebracht hat, an Unbill, Desillusionierung, epidemischer Verheerung. Bei Schönberg trägt diese Zäsur zudem autobiografische Züge: Seine Frau Mathilde stürzt sich in eine leidenschaftliche Affäre mit dem Maler Richard Gerstl, im Sommer 1908 eskaliert das Ganze, und Gerstl erhängt sich. Schönbergs viel beschworene „Emanzipation der Dissonanz“ als Reflex und Reflexion eines bürgerlichen Ehedramas à la Strindberg? Die „Befreiung von der Gravitation“ (der Tonalität) als Bewältigung einer traumatischen, den Künstler in Mark und Männlichkeit treffenden Liebesleiderfahrung?

Damit wäre aus unverbesserlich romantischer (heutiger) Sicht zumindest die Ehre des Anfangs gewahrt – und ein hartnäckiges Klischee widerlegt. Die Aushebelung des Dur/Moll-Systems durch die wiederum systematische Reihung von 12 gleichberechtigten Tönen, wie Schönberg sie vornahm, ist keineswegs die Tat eines gelangweilt Rechenschieberspiele spielenden Maestro Düsentrieb. In der Ursuppe musikalischer Dialektik regiert kein kühler Kopf, keine ideologische Maxime, keine Anarchie, sondern zunächst nur ein einzelnes, brennendes Herz.

Der Abschied von der Konsonanz, der „liebe Augustin“ und die Tatsache, dass sich im dritten und vierten Satz zu den Streichern ein Sopran gesellt, die bürgerlichste und durchgeistigste aller Gattungen also in Auflösung begriffen scheint: Schönbergs op. 10 markiert wenn nicht die Geburtsstunde der neuen Musik, so doch das Sturmgeläut der Hebamme an ihrer Tür und einen der saftigen Skandale der Musikgeschichte. Es fragt sich nur: Was ist postnatal passiert? Was wissen die seit der Uraufführung am 21. Dezember 1908 vergangenen 100 Jahre über die ästhetischen Konsequenzen, das Schulemachen, die Feindeswitterung, über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, vor allem: über das Erregungspotenzial musikalischer Äußerungen heute?

Dass die Aufführung eines neuen Werks von Komponisten wie Wolfgang Rihm, Saed Haddad oder Enno Poppe bei einem Festival des 21. Jahrhunderts (demnächst bei „Ultraschall“ in Berlin oder bei „Eclat“ in Stuttgart) das Publikum kaum mehr nachhaltig verstören wird, kennt viele Gründe. Zum einen setzt jede Provokation ein fest gefügtes und also konservatives Wertegerüst voraus. Nur wo die Statik klar ist, kann gerüttelt werden. Das aber hat spätestens die Postmoderne der neuen Musik ausgetrieben.

Das Zerfallen der ästhetischen Codes, auch innerhalb der avantgardistischen Zirkel von Darmstadt oder Donaueschingen, es stärkt seit Jahrzehnten eine kompositorische Eigensprachlichkeit, einen Subjektivismus und Eskapismus, dem alles erlaubt ist – vom arabesken Seelen-Striptease bis zum agitatorischen Pamphlet. Auch jede Blässe und Beliebigkeit, ja selbst völlige Belanglosigkeit. Ein jeder kann machen, was er will, er muss das eigene Tun nur entsprechend deklarieren, wie beim Zoll. Es regiert das große Ich.

Worüber sollte man sich heutzutage also aufregen, außer darüber, dass es nichts Aufregenswertes gibt? Zum Zweiten und erschwerend aber kommt hinzu, dass Musik, klassische, ernste Musik im Allgemeinen kaum mehr etwas bedeutet. Das Leben im 21. Jahrhundert definiert sich über Geld und Politik und Pop und am Rande vielleicht noch über das eine oder andere Wohlfühl-Event mit Anna Netrebko & Co.. Ein gesellschaftlicher Diskurs jedoch, eine Selbstverständigung über ästhetische Fragen, die auf die Musik, die Partituren zurück- und ausstrahlen könnte, ist längst einem verschwindend geringen, völlig unkenntlichen Häuflein von Spezialisten anvertraut.

Die neue Musik im 21. Jahrhundert führt demnach ein Dasein im doppelten Schneckenhaus. Man sollte das nicht moralisch nehmen, aber die Verschleuderung intellektueller Potenz ist doch bemerkenswert, die Kaltschnäuzigkeit vor allem, mit der eine Gesellschaft meint, auf diese Potenz schadlos verzichten zu können (und mit der Komponisten es sich in den Schneckenwinkelgängen hübsch behaglich gemacht haben). Gewiss, hier und da werden ein paar Trostpflästerchen geworfen, Subventionen, Stipendien, Förderungen, aber damit hat das Gewissen dann auch seine Ruh’. Interessant, was Arnold Schönberg von der Wiener Uraufführung seines fis- Moll Streichquartetts berichtet: Es habe sich ein Tumult erhoben, „der weder vorher noch nachher von einem ähnlichen Ereignis übertroffen werden konnte“ (Skandale wie Alban Bergs „Altenberg“-Lieder oder Strawinskys „Sacre du Printemps“ wenige Jahre später unterschlägt er elegant). Die Wiener freilich schlugen weder mit den Türen noch warfen sie faule Eier, nein, sie lachten. Sie brüllten vor Spott, schlugen sich auf die Schenkel, wischten sich Tränen ab – und zwar bis weit in den vierten Satz hinein, der im Sopran mit dem hoch programmatischen George-Vers „Ich fühle Luft von anderem Planeten“ beginnt und tatsächlich keinerlei Tonartlichkeit, keine Erdenhaftung mehr zulässt. Lachen ist gesund? Auf größere, gemeinere Distanz kann kollektive Aggressivität nicht gehen.

Als Reaktion auf diesen und weitere Eklats sowie zur Hebung des Publikumsgeschmacks ruft Schönberg 1918 den „Verein für musikalische Privataufführungen“ ins Leben, der sich ganz der Musik von „Mahler bis jetzt“ verschreibt. Genützt hat auch das nicht viel. Der Graben zwischen den Produzenten und Rezipienten zeitgenössischer Klänge wuchs stetig weiter. Und das ehedem so beherzte Provokationspotenzial, es versickert nach 1945 im Institutionellen und zerschellt schließlich an der Tatsache, dass jenseits der Dissonanz (die laut Adorno für das menschliche Ohr ohnehin nicht geschaffen sei) keine „anderen Planeten“ der Eroberung harren. Die Mauer am Ende der Sackgasse. Quantensprünge lassen sich schlecht wiederholen. Und dass Musikgeschichte anders als nur chronologisch und aus sich selbst heraus zu lesen ist, das werden uns eines Tages diejenigen erklären, die nicht mehr den gesamten Weltanschauungsballast und Dünkel der vergangenen 100 Jahre mit sich herumschleppen (müssen).

Vielleicht sagen sie dabei „Ich“, vielleicht nicht. Vielleicht ist es im 21. Jahrhundert unerhört genug, dass Menschen überhaupt komponieren. Das heißt: Sich konzentrieren und einer geistigen Sache hingeben und quer zur Gegenwart stehen damit und unerbittlich bleiben in ihrer kreativen Nutzlosigkeit. Im Vorgang des Komponierens selbst könnte das Neue liegen, das niemals das Alte ist. Ihn zu achten und zu bewahren, wäre fürs erste Arbeit genug.

Christine Lemke-Matwey

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