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Vincent Macaigne in typischer Malaise – in Guillaume Bracs Film „Tonnerre“.

©  Arsenal

Arsenal zeigt Filme mit Vincent Macaigne: Ganz genial verrückt

Ein schmuddliger Loser mit viel Herz: Das ist Vincent Macaigne in den wilden Filmen von ein paar Mittdreißigern, die gerade die Nouvelle Vague neu erfinden. Dem gemütlich gewordenen französischen Kino kann das nicht schaden.

Hey, was’n das für’n Typ? Dieses Losergesicht, eingerahmt von einer zottelig braunen Frontmähne, hinter der sich bei genauerem Drumherumgehen eine bedenklich wachsende Heckglatze auftut? Dieses leicht sedierte Springteufelchen, als wär’s ’ne Art Slow-Motion-Ausgabe des frühen Woody Allen – einer der mal eben der Filmgeschichte ins Bild schlurft mit diesem trickreich müden „Hallo, ich bin übrigens auch noch da, aber ebenso übrigens ganz anders“?

Vincent Macaigne heißt er, Jahrgang ’78, und er mischt gerade in ziemlich wilden Filmen das französische Kino auf. In „2 automnes 3 hivers“ von, nie gehört, Sébastien Betbeder joggt er zum Beispiel grundsätzlich gedankenverloren durch einen Park in Paris, stößt mit einer schönen Joggerin zusammen, kurzes Pardon-Stammeln, schnelles Auseinanderjoggen, und natürlich joggt er anderntags absichtlich dieselbe Strecke, um die Schöne wiederzusehen. Da gibt es erstens die Dialoge im Park, da gibt’s Macaignes grüblerisch-komischen Voice Over beim Joggen – und dann bleibt, drittens, der Typ auch noch stehen, redet direkt in die Kamera, erinnert sich, wie das damals war, ganz am Anfang mit der Schönen. Also wirklich, Verschnaufpausen gibt’s!

Das Arsenal-Kino zeigt sechs Filme mit Macaigne

Was hübsch ist: Mit Vincent Macaigne, anfangs Theaterregisseur, derzeit aber höchst gefragt in Filmen von Betbeder und, nie gehört, Justine Triet, Antonin Peretjatko und Guillaume Brac, lässt sich überhaupt eine Verschnaufpause vom üblichen französischen Kino dieser Tage und Jahre nehmen. All diese Regisseure, um die Mitte 30 wie ihr Protagonist, probieren, mit Vincent mal im Zentrum und mal am lauerpositionellen Rand, beiläufig ins Zuschauerhirn hineinschlendernde Alltagsgeschichten – sechs davon sind jetzt im Rahmen der Französischen Filmwoche in Berlin zu sehen –; allesamt Porträts einer Generation eher ohne Kinder, eher ohne feste Jobs, aber nicht offensiv berufsjugendlich, sondern einigermaßen verloren dahinalternd. Mit anderen Worten: allerneueste Nouvelle Vague, und Vincent Macaigne ist ein ziemlich unansehnlicher, aber lustig trüber Wiedergänger des Antoine Doinel.

Zum Zweiten! Vincent Macaigne in "La bataille de Solférino" von Justine Triet.
Zum Zweiten! Vincent Macaigne in "La bataille de Solférino" von Justine Triet.

© Arsenal

Schaden kann so was dem französischen Kino keineswegs. Während sich Urvater Jean-Luc Godard gelegentlich hermetisch raunend in den Kino-Olymp verabschiedet (sein „Adieu au langage“ist am Sonntag beim Berliner Festival „Around the World in 14 Films“ zu sehen), kümmern sich elegant gemachte Komödien wie „Ziemlich beste Freunde“ und „Monsieur Claude“ so unterhaltsam wie international erfolgreich und im Ergebnis politisch hochkorrekt um Toleranz. Abseits dieser Themenfilme machen die Stars zart ratlos weiter, etwa Isabelle Huppert als Bäuerin auf Abwegen, Charlotte Gainsbourg und Chiara Mastroianni auf geschwisterlichen Liebespfaden; und Vanessa Paradis sowie Laetitia Casta geben in einer Pariser Variante von „Sex and the City“ den Affen jederlei Geschlechts Zucker. Alles bestimmt nett, zu sehen ebenfalls auf der Französischen Filmwoche – aber ein bisschen scheint es, als sei dem so prägenden Kino unseres Nachbarlands mit sich selbst langsam langweilig geworden.

Klar geht's um die Liebe

In solchem Ambiente wirkt Vincent Macaigne, so linkisch er dahertrottet in die Herzen eines wachsenden Publikums, wie eine Überdosis Amphetamin. Klar geht’s meist um Liebe, wie sich das im französischen Kino gehört, nur wird davon erfrischend anders erzählt. In Guillaume Bracs „Un monde sans femmes“ vermietet er als vieux garçon – die männliche Variante des „späten Mädchens“ – einer jung gebliebenen Mutter und deren fast erwachsener Tochter eine Ferienwohnung am Atlantik, und natürlich gerät der schüchtern doppelverliebte Fast-Dorftrottel gegenüber dem lokalen Paparazzo schnell ins Hintertreffen.

... und zum Dritten! Vincent Macaigne in "La fille du 14 juillet" von Antonin Peretjatko.
... und zum Dritten! Vincent Macaigne in "La fille du 14 juillet" von Antonin Peretjatko.

© Arsenal

In „Tonnerre“, ebenfalls von Brac, gibt er einen beim Provinzpapa untergeschlüpften Rockmusiker auf bereits absteigendem Aste, und auch der von ihm heftig angestrengten Romanze mit einer jungen Lokalreporterin droht gleich wieder die Luft auszugehen. Dass Macaigne sich dabei mal prügelnd, mal sogar mit dem Schießeisen seiner übermächtigen Rivalen erwehrt, mag zwar moralisch schwer bedenklich sein, ist aber vor allem komisch.

Als Vater ist so einer erst recht die Katastrophe, noch dazu als frisch ausgemusterter, während sich in der Wohnung seiner Ex namens Laetitia der charmante neue Lover und der grundknuddelige Babysitter die Türklinke in die Hand geben. Justine Triet richtet in „La bataille de Solférino“ am Tag der Wahl François Hollandes zum Staatspräsidenten im Mai 2012 eine wahre Familienschlacht an, mit Macaigne als unermüdlich gegen die neue Patchwork-Festung anrennendem Grenadier. Zusätzlich so verrückt wie genial: Der Film spielt, mit Laetitia als Fake-Reporterin, in gefühlter Realzeit mitten unter den realen Sarkozy- und Hollande-Unterstützern, die die Wahl live bei einer Straßenkundgebung verfolgen. Die Regisseurin jubelte später über ihre 10 000 Statisten, immerhin seien es halb soviel wie bei „Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs“ – und alle analog

Genau das richtige Rezept

Keine Frage, verantwortungslos sind die von Vincent Macaigne verkörperten Typen fast durchweg, und insofern auch sehr französisch widerständig gegenüber Karrierestress, normiertem Alltag, auch gegenüber der im 21. Jahrhundert kollektiv drohenden Digitalverblödung. Peripher und prekär leben seine Figuren, die man hierzulande am ehesten „Hartzer“ nennen würde, und im Beharren auf fundamentalem Lebensvergnügen nahezu revolutionär. So was nervt, und es trifft einen Nerv. Im Roadmovie „La fille du 14 juillet“ von Antonin Peretjatko gehört Macaigne zu einem ziemlich losen Zwei-Pärchen-Quartett, das mit anarchischer Energie hochsommers durch die Provinz gondelt. Gibt es Schöneres, als sich unter der Sonne des Südens am Steuer eines dahintuckernden alten Mercedes billigen Sekt direkt aus der Flasche in die Kehle zu schütten?

Gewiss ist es zutiefst verwerflich, wie rücksichtslos hier der Spaß in den Klamauk getrieben wird, aber genau das richtige Rezept gegen das zuletzt so aufgeräumte, um nicht zu sagen: berechnende französische Kino, vom deutschen zu schweigen. Die Kinogängerlust braucht solch irre Irrlichter wie Vincent Macaigne, die einem durch die krisenhaften Zeiten heimfunkeln in den Humor und die Fantasie.

Bis 10. Dezember. Alle Macaigne-Filme im Kino Arsenal, Potsdamer Platz. Details: www.franzoesische-filmwoche.de

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