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Postfan. Künstler Lutz Wohlrab zu Hause in Prenzlauer Berg.

©  David von Becker

Arte Postale: Operation Briefkasten: Mail-Art in Berlin

Lutz Wohlrab ist Mail-Art-Künstler. In der DDR wurde er deshalb drangsaliert. Die Ausstellung „Arte Postale“ in der Berliner Akademie der Künste zeigt, was er und seine Kollegen verschicken.

Wenn der Postbote jedes Mal bis vor die Wohnungstür kommen müsste, würde er sich wohl weigern, Lutz Wohlrab seine Briefe zuzustellen. Wohlrab wohnt im fünften Stock und ist Mail-Art- Künstler. In die ganze Welt verschickt er seine Kunstwerke. Und entsprechend viel bekommt er von anderen zurück. Mail-Art ist Kunst und Kommunikation in einem.

Erst kürzlich war es mal wieder besonders üppig. Anlässlich der Ausstellung „Arte Postale“ in der Akademie der Künste hatte Wohlrab zusammen mit Präsident Klaus Staeck einen Aufruf gestartet, zum Motto „Academy/Akademie“ Karten zu schicken. Mehr als 330 Mail-Artisten aus 38 Ländern haben sich beteiligt, alle Beiträge landeten erst einmal bei Wohlrab. Nun hängen die künstlerischen Postgrüße dicht an dicht an einer Wand am Pariser Platz. Wilde Collagen sind darunter, feine Zeichnungen auch, dekoriert mit Sprüchen und Fotos. Die Qualität schwankt. Das gehört zur Mail-Art dazu. Ausgestellt wird, was zugestellt wurde.

„Eigentlich sind Mail-Art-Ausstellungen nie schön. Ist ja viel Schrott dabei“, sagt Lutz Wohlrab. Weil Post-Künstler häufig auch einen ziemlich dadaistischen Humor haben, meint er das ernst. Und auch wieder nicht. Jedenfalls umspielt seinen Mund immer wieder ein Lächeln, als er an einem Nachmittag in seinem Wohnzimmer von seiner Leidenschaft erzählt, Postkarten ausbreitet, Kataloge und Ausstellungsplakate.

1985 hat er angefangen mit der Mail-Art, damals in der DDR. Fast täglich schickte Wohlrab, wie viele andere Künstler auch, Karten raus, korrespondierte damals schon mit dem Politsatiriker und Grafiker Staeck in Heidelberg oder Robert Rehfeldt in Ost-Berlin, dem Vater der Mail-Art in der DDR. Ursprünglich kommt diese direkte Kunstform, die Galerien und Museen umgeht und sich nur zwischen Sender und Empfänger abspielt, aus den USA. Der New Yorker Künstler Ray Johnson hat in den sechziger Jahren zum ersten Mal eine Art künstlerischen Kettenbrief versendet, der weitergeleitet und ergänzt werden sollte.

In der DDR war die Mail-Art vor allem politisch. Rehfeldt stempelte immer wieder den Spruch „Kunst ist, wenn sie trotzdem entsteht“ auf seine Post. Und Wohlrab schrieb „Meine Karten sind Einbahnstraßen“ oder eindeutig zweideutig: „Vorsicht KNST!“. Zwar galt Mail-Art ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre als ein probates Mittel der freien Meinungsäußerung – auch in diktatorisch regierten Ländern Südamerikas. Ungefährlich war sie für ihre Schöpfer jedoch nicht. KNST, das kann für Kunst und Knast stehen.

So erzählt unter anderem die Akademie-Ausstellung von den Ermittlungen der Stasi gegen die Mail-Art-Aktivitäten von Martina und Steffen Giersch, Joachim Stange, Birger Jesch und Jürgen Gottschalk. Der sogenannte Operative Vorgang erhielt den Decknamen „Feind“ – ein klares Zeichen dafür, dass die Post-Kunst den Staatsoberen durchaus ein Dorn im Auge war. Gottschalk wurde zu mehr als zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Auch Lutz Wohlrab saß in den Achtzigern als junger Medizinstudent in U-Haft. Die Uni exmatrikulierte ihn. Er musste drei Jahre als Hilfskrankenpfleger arbeiten. „Für mich war das ein Wendepunkt in meinem Leben“, sagt er. „Ich hatte plötzlich viel Zeit und viel Wut.“ Eigentlich sei er immer ein Freund der bildenden Künste gewesen, sagt Wohlrab. Durch die Tür seines Wohnzimmers fällt sein stolzer Blick auf ein großformatiges Gemälde des Dresdner Malers Max Uhlig, auf ein expressiv gestricheltes, verschattetes Männergesicht. Er selber malt auch ab und zu. Aber die Mail-Art stillte zu DDR-Zeiten seine Sehnsucht nach fernen Ländern. Er bekam Post aus Italien oder den USA, aus Orten, von denen er dachte, dass er sie niemals besuchen würde.

„Es könnten viel mehr Leute daran Spaß haben“, findet Wohlrab

Postfan. Künstler Lutz Wohlrab zu Hause in Prenzlauer Berg.
Postfan. Künstler Lutz Wohlrab zu Hause in Prenzlauer Berg.

©  David von Becker

Später durfte der 1959 in Greifswald geborene Künstler dann doch noch das Medizinexamen machen. Er arbeitete als Nervenarzt, heute ist er Psychoanalytiker. Passt doch wunderbar zusammen, findet er, die Kunst und die Tiefenpsychologie. „Freud war in der DDR Giftschrank-Literatur“, sagt Wohlrab. Dessen Lehren wurden als unwissenschaftlich und bürgerlich abgetan. Und auch die Mail-Art wurde als feindlich eingestuft. „Beides hatte für mich etwas Subversives.“

Heute ist alles anders. Der Arzt hat seine eigene Praxis, und Mail-Art zu verschicken ist keine illegale Kontaktaufnahme mehr. Aber der Reiz hat sich für Wohlrab nicht verloren. „Heute verschicke ich eben nette Sachen“, sagt er. Erlaubt ist alles. Kleine Sentenzen, Skizzen, poetische Wort-Bild-Collagen. Lutz Wohlrab hat eine Briefmarke mit dem Konterfei des 1993 verstorbenen Robert Rehfeldt gestaltet, organisiert Ausstellungen, hat einen eigenen Verlag, in dem er Anthologien von ostdeutschen Künstlern herausgibt, die ihm am Herzen liegen. Er besucht einen befreundeten Mail-Art-Künstler in San Francisco und lässt dort von sich ein Foto schießen, wie er eine Karte in den Briefkasten wirft. In einem Zimmer seiner Altbauwohnung im Prenzlauer Berg stapeln sich Kartons mit Post, und Wohlrab sagt, als er das noch einmal alles bewusst überblickt: „Das ist doch der Wahnsinn.“

Irre ist auch, dass ausgerechnet das Internet, das den Briefverkehr ja größtenteils ersetzt, die Mail-Art befeuert. Wohlrabs Netzwerk ist auf 3000 Adressen angewachsen, Listen lassen sich leicht herstellen und weiterleiten, ebenso die für die Szene typischen Aufrufe, sich an einem bestimmten Thema zu beteiligen. Seit einigen Jahren baut der Berliner ein Internetarchiv mit Biografien internationaler Mail-Art-Künstler auf (mailartists.wordpress.com). Wohlrab wünscht sich, dass sich die Mail-Art noch weiter ausbreitet. „Es könnten viel mehr Leute daran Spaß haben“, glaubt der Psychoanalytiker. Mail-Art ist nicht schöne Kunst. Es sind die Künstler, die schön sind, heißt es auf einem Kuvert. „Solche Sätze knallen wir uns heute an den Kopf“, sagt Lutz Wohlrab, und seine Mundwinkel ziehen sich wieder zu seinem Lächeln nach oben.

Akademie der Künste, Pariser Platz 1, bis 8.12., Di–So 11–19 Uhr

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