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Szene aus „Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums“.

© joerg metzner

Atze Musiktheater: Thomas Stutter erfindet das Genre für Kinder neu

Singendes sagen: Thomas Sutter komponiert seit 1985 für Kinder. Mit dem Atze Musiktheater erschafft er das Genre seit einigen Jahren ganz neu.

Gewollt hat er das nicht. Es ist ihm halt so passiert. In der Praxis, beim Experimentieren. Thomas Sutter hat eine ganz neue Form des Musiktheaters erfunden. In seinen Stücken sind Sprechen und Gesang nicht getrennt, wie man das vom Musical kennt, wo sich Szenen und Songs abwechseln. Bei Sutter gehen Dialoge immer wieder in Melodien über, nahtlos, ohne Vorspiel. Manchmal legen die Musiker überraschend ihre Instrumente beiseite, greifen als Akteure in die Handlung ein. Oder alle Mitwirkenden werden vorübergehend zum Chor, der das Geschehen kommentiert. Oder die Schauspieler schnappen sich Geige und Akkordeon, so wie jetzt im neuen Stück „Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums“ nach dem Buch von Salah Naoura, das heute im Weddinger Atze Musiktheater am U-Bahnhof Amrumer Straße seine Uraufführung erlebt.

Thomas Sutter ist Autodidakt. Mit dem Gitarrespielen fängt er als 15-Jähriger an, aus Langeweile zunächst. Dann aber packt in schnell die Lust, Eigenes zu komponieren. Er schreibt ein paar politische Lieder in Degenhardt-Manier, trägt sie in der Schule vor – und findet in seinem Mathelehrer seinen ersten Fan. Was sich anschließend äußerst positiv auf Sutters schlingernde Bildungskarriere auswirkt. Mit zwei zugedrückten Augen und zweimal „4 minus“ auf dem Zeugnis lässt ihn der Pädagoge in die Oberstufe rutschen.

Stutter durchbricht das Schema von Strophe und Refrain

Thomas Sutter wird Erzieher und schreibt weiter Songs, „aber nur für mich, im stillen Kämmerlein“. Als seine Tochter geboren wird, schreibt er ihr aus Frust über das allzu putzige, harmlose Repertoire ein modernes Kinderlied. Das gewinnt prompt einen Preis. Mit ein paar Kumpels gibt er erst Konzerte für Kurze und gründet dann das Atze Musiktheater. Seit 2002 haben sie mit dem ehemaligen Max-Beckmann-Saal ihr eigenes Domizil, mit weitem Foyer in luftiger Fünfziger-Jahre-Architektur und 480 Plätzen im großen sowie 100 im kleinen Zuschauerraum. Mit einem Senatszuschuss von 690 000 Euro stemmen Sutter und sein Team 400 Veranstaltungen im Jahr. Ihre Zielgruppe sind Grundschüler, mehr als 70 000 Besucher kommen pro Saison.

Thomas Sutter
Thomas Sutter

© Mike Wolff

2009, bei seiner Adaption von Michael Endes „Momo“, durchbricht Thomas Sutter zum ersten Mal das traditionelle Schema von Strophe und Refrain, setzt chorisches Sprechen ein, macht Textpassagen „singbar“. „Ich komponiere alles auf der Gitarre und spiele es anschließend Leuten vor, die daraus Arrangements machen können“, erzählt er. „Die müssen sich dann mit meinen ,Sutterismen‘ rumschlagen, mit fiesen Taktwechseln, die sich aus der Sprachmelodie ergeben, und mit Akkordfolgen, die gegen jede akademische Regel verstoßen.“

In „Herr Flügel und das blaue Piano“ hat er seine Ideen weiterverfolgt. Dass die 2013 uraufgeführte „Spaghettihochzeit“ mit dem „Ikarus“-Preis des Jugendkulturservice ausgezeichnet wurde, hat ihn besonders gefreut: „Weil die Jury, die ja aus Fachleuten für Sprechtheater besteht, offensichtlich emotional verstanden hat, worum es mir geht.“

Wer sich in der Musikgeschichte auskennt, muss an die Florentiner Camerata denken, wenn er Thomas Sutter dabei zuhört, wie er seine Arbeitsweise beschreibt. Ende des 16. Jahrhunderts beschloss ein Kreis von Dichtern, Musikern, Philosophen und gelehrten Adeligen in der toskanischen Kunstmetropole, das antike griechische Drama wiederzubeleben. Aus der historisch-ästhetischen Rekonstruktion, die sie mit viel intellektuellem Aufwand erschufen, entstanden dann die allerersten Opern. Die damals beliebte Mehrstimmigkeit wurde verworfen. Durch das recitar cantando, das singende Sprechen, sollten die antiken Worte ihre volle Ausdruckskraft wiedererlangen.

Im Singen erhält das Gesagte eine Dringlichkeit

So fern Thomas Sutter der bildungsbürgerlichen Sphäre steht, so nahe kommt er den Renaissance-Gelehrten auf seine eigene Art, von seinem Liedermacher-Standpunkt aus: „Ich bin Geschichtenerzähler“, sagt er, „und darum will ich den gesungenen Text unbedingt verstehen. Dadurch, dass jemand singt, erhält das Gesagte eine Dringlichkeit, eine emotionale Überhöhung. Die wirkt noch intensiver, wenn das Gegenüber ganz normal weiterspricht.“

Im Fall von „Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums“ sind neben dem in Personalunion als Komponist, Liedtexter, Autor und Regisseur fungierenden Atze-Chef neun Künstler beteiligt, von denen sechs auch Instrumente beherrschen. Iljá Pletner, der Darsteller des Matti, spielt Geige, Christian-O. Hille, sein Bühnenvater, Akkordeon. Die Band mit zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug hat Ausstatter Jochen G. Hochfeld in einer schlichten Hütte untergebracht. Aus dem Schnürboden herabhängende Fichtenstämme verstärken die Finnland-Assoziationen. Weil er seine Eltern ständig beim Lügen erwischt, beginnt Matti ebenfalls zu flunkern – mit der fatalen Konsequenz, dass sich die Familie schließlich obdachlos im skandinavischen Norden wiederfindet.

Die Inszenierung sieht auf den ersten Blick nach klassischer Gripstheater-Tradition aus. Um das „Sutterische“ der Produktion wahrzunehmen, muss man schon genau hinhören. Und wird es auch dann vielleicht zunächst gar nicht bemerken. So organisch, so selbstverständlich nämlich greifen Ton und Wort hier ineinander, wechseln die Darsteller zwischen den vokalen Ausdrucksebenen hin und her, oft ganz ohne instrumentale Einleitungen, die helfen könnten, die richtige Note zu treffen.

Schauspieler, die das können, die so vielseitig begabt und gleichzeitig an Kindertheater interessiert sind, rennen einem Intendanten nicht gerade die Bude ein. Vor allem, wenn er sie nur projektweise engagieren und hart an der Grenze zur Selbstausbeutung bezahlen kann wie Thomas Sutter. Was er seiner Truppe zu bieten hat, ist nur die Aussicht, Teil von etwas Besonderem zu werden, bei der Entstehung einer ganz neuen Facette des Genres mitzuhelfen.

Sieben Wochen haben sie im Spätsommer schon am „Matti“ gefeilt, am dramaturgischen Timing, an der Synchronität von Band und Schauspielern – um das Stück dann liegen, reifen zu lassen, mögliche Schwachstellen zu erkennen. Nach einer letzten Arbeitsphase treten sie heute vor das unbestechlichste Publikum, das es gibt: Kinder.

Premiere am heutigen Freitag, 17 Uhr, weitere Aufführungen im Januar am 10., 28., 29. und 31., Infos: www.atzeberlin.de

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