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Kultur: Auf dem Gipfel

Grandios: Kent Nagano und das DSO spielen Bruckners Vierte

Wie ein verdeckter Zyklus ziehen sich die Sinfonien Anton Bruckners durch die Amtszeit Kent Naganos beim Deutschen Symphonie-Orchester. Fast alle Sinfonien hat er in den letzten vier Jahren aufs Programm gesetzt, ja diesen monumentalen Werkkorpus zum Herzstück seines eigenen Entwicklungsprozesses gemacht. Was auf den ersten Blick verwundert, weil Nagano (immer noch) gern als Dirigent der Moderne abgetan wird, als einer, der für das Repertoire der deutsch-österreichischen Klassik und Romantik schlichtweg nicht das nötige Traditionsverständnis mitbringt.

In der Tat hat Naganos Bruckner wenig mit deutscher Kapellmeistertradition zu tun, mit den weihevollen „Bruckner-Nebeln“ à la Knappertsbusch ebenso wenig wie mit der selbstverständlich entfalteten Klangarchitektur eines Günter Wand. Nagano sieht Bruckners Sinfonien von der Moderne aus: Als eine Reihe verzweifelter Versuche, Abbilder einer auseinander driftenden Welt zum formalen Ganzen zu fügen. Eine These, die schon durch die Kombination der Fünften mit Bachs „Goldberg-Variationen" als geschlossenem Gegenentwurf und der Neunten mit Schönbergs eingeschobener „Erwartung" deutlich wurde.

Bei der Vierten, der „Romantischen“ sind solche konzeptionellen Fingerzeige jedoch nicht nötig – das Beiprogramm in der Philharmonie fällt mit Pfitzners „Palestrina"-Vorspielen und Korngolds Violinkonzert (Hilary Hahn geigt es mit meinungsloser Perfektion) eher diskret aus. Diesmal steht das Werk für sich selbst: Nagano wählt die selten gespielte Urversion, die bis in die Achtzigerjahre (bis zur bahnbrechenden Einspielung Inbals) als formal missglückt abgetan wurde.

Doch gerade das Bruchstückhafte, das hier in jedem Takt hervorspringt, die abrupten Wechsel, die wildwüchsig verschrammten Stimmverläufe, die den Kampf des Komponisten mit seinem Material fühlbar machen, all das fügt sich hier ins Bild. Die Generalpausen etwa, die Thielemann oder Barenboim durch rhetorische Aufladung ihres Umfeldes als „Kunstpausen“ einbinden, versteht Nagano als bewusst gesetzten Weißraum. „Romantisch“ ist diese Sinfonie aufgrund ihrer Zerrissenheit – bis ins Finale, das immer wieder die Motive abklopft und doch nur zu einer gewaltsamen Scheinlösung findet.

Dennoch driftet das Werk nicht auseinander – die äußere Gespaltenheit kompensiert Nagano durch eine Kontrastdramaturgie, die einen inneren Zusammenhalt schafft: Der DSO-Chef erlaubt seinen Musikern mittlerweile einen körperhafteren, farbkräftigeren Klang, zeigt, wie suggestiv Bruckners vermeintlich unbeholfene Orchestrierung mit ihrem rauen Klangrelief ist.

Zumindest wenn sie so gespielt wird wie vom DSO: Schon das einleitende Hornsolo trifft mit seinem geschmeidigen Hervorwölben der zweiten, punktierten Note den Grat zwischen der modernen Prägnanz einer absoluten Musik und eines poetisch-romantischen Gesangs – Bruckners orgelregisterartige Trennung der Einzelstimmen scheint vor allem die Musiker der grundierenden Instrumente (Bratschen, Kontrabässe!) zu animieren. Es ist das Bruckner-Bild unseres Jahrhunderts, das Nagano in Berlin geprägt hat. Wer es miterlebt hat, darf glücklich sein.

Jörg Königsdorf

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