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Kultur: Auf dem Spielfeld

Schachfigur Mensch: Die Hamburger Kunsthalle und das Bucerius Kunst Forum feiern Giacometti.

Das Spiel geht um die Liebe und deshalb um Leben und Tod. Dame und König stehen sich auf dem grauen Marmorfeld gegenüber, getrennt durch die offenen Gräber ihrer Gefolgsleute. „On ne joue plus“ – wir spielen nicht mehr, nennt Alberto Giacometti 1931/32 seine Versuchsanordnung. Den Widerspruch zwischen Konfrontation und Unerreichbarkeit.

Die „überlängten“ Sehnsuchtsgestalten des Schweizer Bildhauers sind hinreichend vertraut. In Hamburg aber werfen zwei Ausstellungen einen frischen Blick auf das Werk. Das Bucerius Kunst Forum widmet sich den Porträts, die Kunsthalle der Skulptur. Ausgangspunkt sind die surrealistischen Anfänge, die schroff und aggressiv das Fürchten lehren. Unter dem Einfluss afrikanischer und ozeanischer Kunst werden Giacomettis kubistische Figuren erst flacher, dann neigen sie sich in die Diagonale, bis sie als Personenaufstellungen in den waagrechten Spielfeldern münden. Wie auf einem Schachbrett können die Figuren verschoben werden. Dafür müssen die Betrachter jedoch ihren Standpunkt ändern.

Den ständigen Perspektivwechsel hat der Künstler aus seiner Heimat, dem Schweizer Bergell, nach Paris gebracht. Im Gebirge fällt der Blick entweder vom Berg ins Tal oder er wandert hinauf auf die Gipfel. Die Distanzen vergrößern sich schnell, Lebewesen schrumpfen in Minuten zu Punkten. Der Mensch muss sich immer neu positionieren, zwischen Himmel und Abgrund. In Paris verknüpft der Künstler diese Erfahrungen mit den Selbsterkundungen der Surrealisten. Sein Lebenstraum war eine große Skulpturengruppe auf einem öffentlichen Platz, die Kunsthalle folgt dieser Vision.

Den erschreckendsten Moment erleben die Besucher, wenn ihr Blick auf die „Femme égorgée“ von 1932 zu ihren Füßen fällt. Wie ein Insekt bäumt sich die Frau mit durchschnittener Kehle am Boden. Im selben Moment erliegt sie ihren Verwundungen. Die Ohnmacht des zuckenden Körpers wirkt unerträglich.

Die Bronze lag auch in Giacomettis 18 Quadratmeter großen Atelier auf dem Boden, dessen Enge die Kunsthalle nachahmt. Fast vierzig Jahre arbeitete er dort, es war seine Konstante. Nach dem Bruch mit den Surrealisten konzentriert sich Giacometti auf den Prozess der Wahrnehmung und entwickelt 1946 die Vorstellung einer Raum-Zeit-Scheibe, in der er verschiedene Erinnerungen gleichzeitig abrufen kann. In Hamburg ist diese Zeichnung, die auch auf der 100-Franken-Note prangt, als begehbares Modell nachgebildet. Im Inneren begreift man den wegweisenden Gedanken, unterschiedliche Lebensphasen in einen Umriss zu hüllen. 1958, mit dem Auftrag, die Chase Manhattan Plaza in New York zu gestalten, hätte sich alles verbinden lassen – der Perspektivwechsel, die Beziehungen zwischen den Figuren, die Aktion der Passanten, die Gleichzeitigkeit von Leben und Kunst. Der Hamburger Kunsthalle vereint die Figuren dieses riesigen Spielfeldes erneut. Die drei Meter hohe Göttin als ewig ferne Frau. Den Kopf, der alles wahrnimmt. Und den Schreitenden, den Mann, der immer sucht und niemals findet. Die drei sprengen den Raum, dennoch wirkt die Leere zwischen ihnen beängstigend. Aus diesem Grund lehnte der Architekt den Entwurf ab, ihm fehlte die Komposition. Noch kurz vor seinem Tod dachte der Künstler darüber nach, die Größenverhältnisse zu verdoppeln.

Ehe die Figuren überlebensgroß werden konnten, mussten sie auf Däumlingsformat schrumpfen. Im Bucerius Kunst Forum sind die Porträts von Angehörigen und Freunden zu sehen. Im Staubgrau des Studios malt und zeichnet Giacometti immer wieder seinen Bruder Diego und seine Frau Annette. Ihn fasziniert die Interaktion mit dem Modell. Fotos belegen allerdings, wie sehr sich dessen Wahrnehmung von der des Künstlers unterscheidet. Seine Frau beobachtet ihn mit vertrauter Zärtlichkeit. Giacometti aber zeichnet sie in eherner Distanz. Simone Reber

Kunsthalle Hamburg, bis 19. 5.; Bucerius Kunst Forum, bis 20. 5.

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