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Kultur: Auf den Spuren des Unvollendeten

Vor 40 Jahren sprach John F. Kennedy in Berlin – und jetzt versucht sich das Deutsche Historische Museum am Mythos des Präsidenten

Die revolutionären Umwälzer und Gewaltherrscher, Stalin, Hitler, Mao, sie gelten als die ins Mythologische erhöhten Figuren des 20. Jahrhunderts. Demokratische Politiker dagegen müssen zumindest auch Kriegshelden gewesen sein, um – wie Churchill oder de Gaulle – zum Mythos zu taugen. Nicht einmal General Eisenhower, Sieger im Zweiten Weltkrieg und US-Präsident, hat es je zur Legende geschafft. Nur sein Nachfolger John F. Kennedy ist als ziviler Demokrat zur Ausnahme von der Regel geworden, durch sein Charisma – und den frühen Tod. Ein Unvollendeter.

Der Kennedy-Mythos, weitergetragen von der Witwe, den Brüdern, den Kindern, er lebt freilich auch fort als ein deutsches Wunder. Seine vier Worte „Isch bin ain Böörliner“ haben sich in die Herzen und in das historische Gedächtnis eingebrannt. Dabei war Kennedys Rede, die er heute vor 40 Jahren vor dem Schöneberger Rathaus gehalten hat, fast zwei Jahre nach dem Mauerbau nicht einfach nur Balsam für die Berliner Teilungswunde.

Es war mit der Macht des Wortes tatsächlich ein weltpolitischer Moment. Weil der glänzend aussehende, aber im Gestus trotz des hunderttausendfachen Jubels von kühler Rationalität und lächelnder Distanziertheit beherrschte Präsident einen rhetorischen Kunstgriff wählte. Tatsächlich sprach er den berühmten Vierwortesatz zweimal: Indem er als erstes den Stolz beschwor, der einen Bewohner der antiken Welt im Bewusstsein ergriff, „ein Römer“ zu sein, schlug JFK einen verblüffenden Bogen über 2000 Jahre hinweg; und die gedankliche Volte, jeder freie Bürger auf der Welt müsse heute stolz sein, im Geiste ein Berliner zu sein, machte aus dem gebeutelten Opfer plötzlich ein Vorbild, verlieh dem Ohnmächtigen ganz unverhofft eine strahlend symbolische Macht.

Erst am Ende der Rede, nach einer Vision der deutschen Einheit, bezog der 46-jährige Kennedy das rhetorische Berlin-Bekenntnis mit deutschem Radebrechen auch auf sich selbst – und wendete den zunächst fast bildungsbürgerlichen, alteuropäischen Appell ins Emotionale, ja für viele: Herzergreifende. Kennedys unpathetisches Pathos speiste sich an jenem 26. Juni 1963 aus einer weltbürgerlichen Ethik, für die nur das Wort Globalisierung noch nicht erfunden war.

Natürlich sieht der Besucher der jetzt im neuen Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums (DHM) eröffneten Kennedy-Ausstellung das Ereignis vorm Schöneberger Rathaus auf einem Videoscreen. Ebenso wie Kennedys Inaugurations-Rede („Frage nicht, was deine Land für dich tun kann...“) am 20. Januar 1960 vorm Washingtoner Kapitol. Und gewiss ist es rührend oder erhellend, wenn man unter einem Foto von Kennedys amerikanischen Lieblingslyriker Robert Frost das Manuskript seines 1942 geschriebenen Gedichts „The Gift Outright“ (Eine Gabe ohne Vorbehalt) in der Vitrine sieht und erfährt, dass der damals 87 Jahre alte Poet ein eigens für JFKs Amtseinführung verfasstes neues Poem wegen der tiefstehenden Wintersonne nicht mehr abzulesen vermochte und daher auf den Stufen des Kapitols improvisierend und auswendig aus der fast 20 Jahre zurückliegenden „Gabe“ zitierte.

So etwas gehört zu den eher beiläufigen Trouvaillen der von Andreas Etges, einem jungen Wissenschaftler von der Freien Universität, mit großer Akkuratesse zusammengetragenen Ausstellung. Bemerkenswert im politisch-zeitgeschichtlichen Blick ist beispielsweise auch eine umscheinbare Graphik, die zeigt, dass Kennedy während seiner knapp dreijährigen Präsidentschaft nach demoskopischen Umfragen des Gallup-Instituts die höchste Popularität (mit rund 85 Prozent Zustimmung) ausgerechnet im April 1961 zur Zeit der gescheiterten Schweinebucht-Invasion (auf Kuba) genoss und dies die Werte sogar beim ersten, von Kennedy patriotisch forcierten amerikanischen Raumflug John Glenns übertraf. Interessant auch: die in Berlin ausgestellten frühesten Fernschreibermeldungen der Nachrichtenagenturen vom Attentat. Der verstörte UPI-Korrespondent lieferte in seiner Aufregung nur einen Buchstabensalat, den Don DeLillo zwei Jahrzehnte später in seinem Roman „Sieben Sekunden“, aus dem das DHM zwei handkorrigierte Typoskriptseiten präsentiert, in dokumentarische Literatur verwandelt; dagegen spricht AP-Korrespondent Jack Bell schon in seiner ersten Meldung am 22. 11. 1963 aus Dallas verblüffend hellhörig von „three shots“.

Den zweiten Schuss übrigens, der Kennedys Hirnschale zertrümmerte, blendet die Ausstellung bei der Zeitlupen-Wiedergabe des berühmten Amateurfilms von der Ermordung für eine Sekunde des Taktes aus. Das ist legitim. Leider aber fehlt auch zu Kennedys Leben und Nachleben in den Kabinetten des Pei-Baus noch vieles. Die Ausstellung ist zu kleinteilig, hat keine gestalterische Idee und bietet in gröbster chronologischer und motivischer Reihenfolge nicht viel mehr als (meist bekannte, kleinformatige) Fotos und einige Dokumente und Devotionalien in den Vitrinen. Das wirkt oft ein bisschen ärmlich, wie sonst im Heimatkundemuseum.

Ein Glücksfall nur: Der schon fossilhaft anmutende Leseapparat für kyrillische Fernschreiben, den das Weiße Haus während der Kuba-Krise benutzte, stammte aus der DDR. Ernüchternder wirkt, dass es außer ein paar Unterschriftsproben, einem halben Füllfederhalter oder einem (in Farben der französischen Trikolore gebundenen!?) Programm der Washingtoner Inaugurationsfeier praktisch keine Kennedy-Originale zu sehen gibt. Mit Verweis auf die internationale Sicherheitslage vor dem Irak-Krieg hatten die amerikanischen (Staats-)Archive fast alle Leihgaben verweigert und nur noch Kopien gesandt. So ist hier selbst Jacks Taufkleidchen ein – absurdes – Imitat. Selbstverantwortet aber sind andere Schwächen: Die Dramatik der Kuba-Krise oder des Wettrüstens bei der Weltraumfahrt wird in der biederen Nacherzählung mit Minifotos an der Wand genauso wenig deutlich wie der allenfalls angedeutete gesellschaftliche Glamour oder das Zwielicht von Showbiz, Mafia und Prostitution, in dem sich JFK bewegte. Auch das in jungen Jahren begonnene Verhältnis Kennedys zu Deutschland oder der spätere Todesfluch über der Familie sind unterbelichtest. So bleibt der Unvollendete hier: doppelt unvollendet.

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