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Kultur: Auf der Galopprennbahn

Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker jagen durch Beethovens „Fidelio“

Am Ende: Jubel, Ovationen, Liebesschwüre. Und das, pardon, war klar. Denn einerseits gibt es derzeit wohl wenige Konstellationen, die verlässlicher für Erfolg bürgen. Man nehme Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker, stelle mit Rührung fest, dass diese sich immer noch in den Flitterwochen befinden, lasse eine konzertante Oper spielen (wobei es effektvollere Varianten als Beethovens „Fidelio“ gegeben hätte), engagiere eine Handvoll namhafter Gesangssolisten und den tollen Wiener Arnold Schoenberg Chor in der Einstudierung von Erwin Ortner – und schon steigert sich das zu Erwartende ins Emphatisch-Ereignishafte.

Was hätte passieren müssen, so fragte man sich, um diesen Abend in seinem Gelingen je zu gefährden? Nicht einmal die durchwachsenen Kritiken von den Salzburger Osterfestspielen, wo das Ganze vor zwei Wochen szenisch Premiere feierte (Tagesspiegel vom 14. April), schienen der Sache in Berlin irgendeinen Abbruch zu tun. Und das wiederum ist ja auch schön, irgendwie.

Andererseits aber ratterte Simon Rattle das Finale „Wer ein holdes Weib errungen“ in einem derart irrwitzigen, ja grotesken Tempo herunter, wie auf einer verrückt gewordenen Nähmaschine oder als klemmte plötzlich das Gaspedal des philharmonischen Zwölfzylinders, dass das Publikum sich förmlich Luft machen musste: Um die Energieverhältnisse im Saal zurechtzurücken, um sich selber halbwegs zu behaupten. Gegen die Stille nach dem Schuss hilft eben nur der eigene Schrei.

Was Rattle mit diesem Ausbruch allerdings bezweckte, bleibt nebulös. Dem Affen Zucker geben und nichts anderes als eben jenen Beifall provozieren? Das wäre doch zu billig. Ein doppeltes trotziges Ausrufezeichen an den Schluss setzen, eine Art Aufstampfen mit dem Fuß, um vergessen zu machen, dass ihm die Dramaturgie der Partitur, die Beethovensche Teleologie des heroischen „Augenblicks“, von Nummer zu Nummer mehr entglitten war? Dafür wäre es zweifellos zu spät. Oder wollte Rattle einfach nur testen, zu welchen sportiven Höhenflügen „seine“ Musiker nach zwei Stunden konzentriertestem Klügeln noch fähig sind? Das zumindest ließen diese sich nicht zweimal sagen: Mit roten Backen und glänzenden Augen wurde da geschrubbt und geklöppelt, was die Instrumente hergaben.

Wobei den Philharmonikern schon zuvor Beeindruckendes gelungen war: Die Holzbläser etwa hatten einen guten, innigen Tag, die Einleitung zum Melodram im zweiten Akt („Wie kalt ist es in diesem unterirdischen Gewölbe!“) schimmerte dank der tiefen Streicher wie Basalt, und wenn das Blech zu den Auftritten Pizarros (Alan Held) richtig auspackte, dann öffnete sich für Sekunden jener Schlund der Willkür und des Verbrechens, der Beethovens Hohelied auf die Gattenliebe ebenso furchterregend wie theaterwirksam grundiert. Ein geschlossenes, schlüssiges Klangbild freilich, eines, das den Widerstreit der Kräfte zugelassen hätte, ohne zu zerfallen, ergab sich aus all dem nicht.

Auf einer Skala zwischen Singspiel und Ideendrama von 1 bis 10 kreist Simon Rattles „Fidelio“-Lesart mutmaßlich um die Position 3 oder 4. Das bedeutet: Je offensiver er sich bemühte, allem Vorbiedermeierlichen, Spießbürgerlichen zu entfliehen, desto unausweichlicher wurde dieses, desto kecker gerierten sich die entsprechenden Restbestände aus der Erst-Fassung von 1805/06.

Während also Nummern wie das Eingangsduett (von Juliane Banse und Rainer Trost neckisch ausgekostet) oder auch die Gold-Arie des Rocco (László Polgár mit versiertem Knatter-Bass) in ihrer drahtigen Munterkeit durchaus gefielen, ging fast alles schief, was das Geschehen transzendiert und dramatisch in die Entscheidung zwingt. Das berühmte Quartett etwa entbehrte jeden Zaubers, jeden Atems und aller Selbstvergessenheit – und schickte die Figuren umstandslos wieder auf die musikantische Galopprennbahn zurück; der Introduktion des zweiten Aktes fehlte derart die Spannung und ein Bewusstsein für die Architektur, dass Florestan mit seinem „Gott, welch Dunkel hier“ regelrecht unmotiviert herausplatzte (wobei erschwerend hinzu kam, dass Jon Villars außer einem heldischen Timbre nicht viel zu bieten hatte und sich in jeder Hinsicht arg anstrengen musste); und Leonores „Töt‘ erst sein Weib!“, Höhepunkt und Schlüsselstelle dieser Rettungsoper, kam reichlich verwackelt über die Rampe.

Der Preis dafür, dass die Sänger in der Philharmonie weit hinten, zwischen Kontrabässen und Chor postiert waren? Angela Denokes Leonore indes wäre auch weiter vorne kein kerniger Tatmensch gewesen. Sie, die um die Höhe wie um die Tiefe der Partie zu kämpfen hat und den Hörer zunächst mit einem umfänglichen Vibrato verschreckt, scheint in „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ mehr von der Hoffnung zu träumen, als diese zu verspüren: mit somnambulem Lallen in den Melismen, mit bester Textverständlichkeit und bestrickender Phrasierungskunst. Hier weiß eine Sängerin um ihre Grenzen – und als einzige wirklich ums Theater – was man von Thomas Quasthoffs schuberteskem Minister kaum erwarten durfte. Fazit: eine Enttäuschung. Liebesverrat. Wenig heiß, viel kalt.

Noch einmal am 28. April.

Christine Lemke-Matwey

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