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Kultur: Auf Frankensteins Sofa

Ein Nachmittag bei Gunther von Hagens

„Halten Sie bitte mal“, sagt Gunther von Hagens’ Frau Andrea Whalley und reicht meinem Chef einen Arm. Aber nicht den ihren, sondern einen einzelnen männlichen Arm, komplett mit Hand, abgetrennt kurz vorm Ellenbogen. Sie holt, während mein Chef den Arm hält, einen Bildband über Anatomiegeschichte aus dem Regal. Ich darf auch mal den Arm halten. Er fühlt sich merkwürdig griffig an, wie hartes Gummi und riecht nach Desinfektionsmittel. Der Arm ist schwer.

Im Sommer 1993 sitzen wir in Gunther von Hagens’ Wohnzimmer, in seinem Haus im Heidelberger Stadtteil Kirchheim. Von Hagens war damals hauptsächlich Fachkreisen bekannt. Ich war seit gerade drei Wochen Praktikant bei einer Dokumentarfilmfirma und hatte schon einiges erlebt. Wir drehten einen Film über Mumien und Mumifizierung fürs ZDF, die Dreharbeiten in Japan und Ägypten waren schon abgeschlossen, und seit Wochen hielten wir uns hauptsächlich in Grüften deutscher Schlösser und Kirchen auf und filmten mumifizierte Leichen aus den verschiedensten Jahrhunderten. Dramaturgischer Höhepunkt des Films sollten die anatomischen Präparate von Gunther von Hagens sein: die Erfindung der perfekten Mumifizierungsmethode Ende des 20. Jahrhunderts – die Plastination. Zur Vorbesprechung der Dreharbeiten lud uns Doktor von Hagens zu sich nach Hause ein.

Über Hagens’ Schreibtisch hängt ein Storch mit einem BH im Schnabel. „Ausgestopft, nicht plastiniert“, erklärt der Mann mit dem Joseph-Beuys-Hut nüchtern. Im Wohnzimmer eine amerikanische Bar, üppige Sessel und ein Sofa. Auf dem Beistelltischchen liegt der Arm. Gunther von Hagens scheint durch und durch Wissenschaftler zu sein. Er spricht von Aufklärung und der Unterdrückung der Anatomie in früheren Jahrhunderten. Nur der Beuys-Hut macht stutzig.

Einige Tage später filmen wir im Anatomischen Institut der Universität Heidelberg. An verschiedenen Arbeitstischen schnipseln Mitarbeiter an Leichenteilen herum. In der Luft liegt der Geruch von Lösungsmitteln. Mit flauem Gefühl im Magen baue ich das Licht auf. Der Kameramann muss öfters an die frische Luft. Ich schaue durch das Objektiv: Im Bild hinter von Hagens hängt an einem Gestell „Herkules“, das erste Ganzkörperplastinat, auf das der Doktor sehr stolz ist. In der Hand hält er einen plastinierten Embryo. Das Interview dann klappt souverän. Es kulminiert in dem Satz: „In Ägypten wäre ich der zweite Mann im Staate gewesen.“ Ein perfekter Schluss. Und von Hagens hat dabei ein Blitzen in den Augen. Zum Abschied gibt er uns Formulare für die „Körperspende“ mit. Auch uns hat er im Visier.

Inzwischen ist von Hagens berühmt. Seine Garagen-Firma, die er gerade gegründet hatte, als wir den Mumien-Film drehten, agiert jetzt weltweit, in Kirgisien und China. Seine Wanderausstellung „Körperwelten“ wurde von mehreren Millionen Menschen gesehen. Hagens ist längst Multimillionär. In den Feuilletons wurden seine Plastinate, die er in immer ausgefalleneren Posen modellierte, als „Rückkehr des Körpers“ gefeiert. Ein unaufhaltsamer Aufstieg. Doch jetzt scheint der Abstieg bevorzustehen. Es heißt, er habe zu Unrecht den Professorentitel getragen, und von Hagens’ hat ein Verfahren am Hals. Dazu nun der Enthüllungsaufmacher im „Spiegel“. Hat er chinesische Hinrichtungsopfer plastiniert? Postwendend spricht sich der Berliner Kultursenator gegen eine Dauerausstellung in der Hauptstadt aus. Heute will von Hagens’ in einer Pressekonferenz zu den Vorwürfen Stellung nehmen.

Es sieht so aus, als reagiere die Öffentlichkeit erst jetzt mit ganzer Härte auf die Tabubrüche, die ihr von Hagens zugemutet hat und von denen sie ganz berauscht war: auf den verspielten Umgang mit Leichen, das Wegretouchieren des Hässlichen am Tod, der erlaubte Voyeurismus am Schrecklichen, die horrible „Faszination des Echten“, wie der Untertitel seiner Ausstellung lautet. Einmal abgesehen von dem schmuddeligen Leichenbeschaffungsproblem, über das von Hagens jetzt vielleicht stolpert – die Öffentlichkeit konnte zu jeder Zeit im Bilde sein, worauf von Hagens Ehrgeiz hinauswollte: aufs Künstlersein.

Die Medizinerkollegen bespöttelten ihn als Handwerker, als Möchtegern-Professor, als Daniel Düsentrieb der Anatomie. Aber von Hagens’ setzte sich den Beuys-Hut auf, erklärte sich zum Künstler. Die Genie-Rolle kommt an sozialem Status in der westlichen Welt gleich nach oder gar noch vor dem Staatsmann. Diese Rolle wollte er haben. Dass er mit seinen pseudo-pädagogischen Plastik-Leichen ästhetisch nur Horror-Nippes produzierte – das wollte man viel zu lange nicht wahrhaben. Und man vergaß allzu leicht, dass ein wissenschaftlich-seriöser Rahmen für anatomische Präparate, den von Hagens so insistent verletzte, kulturell gesehen den Respekt vor dem toten Körper garantiert.

Von Hagens selbst kann kaum etwas dafür – ihn trieb manischer Ehrgeiz. In Ägypten wäre er eben gleich nach dem Pharao gekommen. Dieser Ehrgeiz war ihm schon damals von den Augen abzulesen. Die Öffentlichkeit reagierte später verwirrt auf von Hagens’ Tabubrüche, weil sie keine klaren Begriffe mehr vom Umgang mit dem (verdrängten) Tod hat. Vielleicht zeigt sich jetzt, dass der Tod doch eine Grenze setzt. Auch für Gunther von Hagens.

Marius Meller

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