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Kultur: Auf nach Westen!

Zwischen Leben und Traum: Fritz Rudolf Fries unternimmt einen knallbunten Amerikatrip.

Etwas Besseres als den Tod findest du überall, vermuten Hahn, Katze, Hund und Esel, als sie sich auf den Weg nach Bremen machen. Dem Beispiel der ausgemusterten Tiere wollen die Herren Pierre Arronax und Benno von Arcimboldi folgen. Beide fühlen sich ganz ähnlich aus ihren Leben verstoßen, der eine ein Schriftsteller, den kaum einer liest, der andere ein Theater- und Kinomann, dessen Filme keiner dreht. Als betagte ehemalige DDR-Bürger sind sie frei von Furcht – alle Enttäuschungen scheinen hinter ihnen zu liegen. Nicht ganz so frei sind sie von Hoffnung, denn bereit für neue Täuschungen zu sein ist alles.

In ihre Dauerbereitschaft, eine Alternative zum Tod zu suchen, platzt der Gewinn einer Weltreise. Und da die europäische Topografie der Hoffnung ihre Jungbrunnen seit Jahrhunderten in Amerika verzeichnet, heißt es: Wohlan old men, go west!

Wer eine Literatur schätzt, die es polyglott, welterfahren und gewitzt verweigert, sich an den Maßgaben des Faktischen entlangzuhangeln, ist seit mehr als vierzig Jahren bestens aufgehoben bei Fritz Rudolf Fries. Seine ästhetisch ausgeklügelten Romane verbraten spielerisch etliche Regalmeter Literatur- und Kunstgeschichte. Sie transzendieren traumtänzerisch das Bestehende und ergänzen es durch das Wünschbare – oder auch das zu Befürchtende. Insofern ist „Last Exit to El Paso“ ein typischer Fries.

Die knallbunte Geschichte ist kaum wiederzugeben: Die Weltreise, das werden die Herren erst in New York erfahren, reduziert sich auf zwei Autofahrten, die Arronax in Begleitung seiner Haushälterin Kathleen und Arcimboldi mit seinem Sohn Piet als Konkurrenten an der amerikanischen Ost- und Westküste hinab nach Süden in die amerikanisch-mexikanische Grenzstadt El Paso/Ciudad Juárez führt. Dabei sollen sie die Bilder des Surrealisten Paul Delvaux aufspüren, die aus einer Ausstellung geraubt worden sind. An den Stationen dieser Road Novel mit ihren Motels und Fastfood-Ketten begegnen einem Akademiker, fragwürdige Doppelgänger, etliche Verschwörungstheoretiker sowie das Personal aus diversen Filmen und Büchern.

Einiges, von Groucho Marx über Fellini und Cervantes bis zu Robert Crumb, liegt seit jeher auf Fries’ Hausaltar. Anderes wie César Aira oder Roberto Bolaño scheint hinzugekommen zu sein. Und doch ist alles halbwegs plausibel verflochten: Delvaux malt eine „Hommage à Jules Verne“, Pierre Arronax stammt aus Vernes „20 000 Meilen unter den Meeren“. Bolaños Roman „2666“ entnimmt Fries nicht nur die Figur des Schriftstellers Arcimboldi, sondern auch dessen Kritiker. Das ist nur ein kleiner Teil des Materials, das der Roman verfugt. Entscheidender dürfte sein, dass die erzählte Realität seit der Abreise von Berlin-Tegel immer mehr von Träumen durchlöchert wird.

Auf was will dieses Erzählen hinaus? Wer, wie die Bremer Stadtmusikanten, nichts zu verlieren hat, braucht keine Rücksichten nehmen, auch keine ästhetischen. Nicht dass Fries jemals an ideologischen oder merkantilen Leitlinien entlanggeschrieben hätte! Allerdings ist in den letzten Jahren eine Zuspitzung jenes Verfahrens unverkennbar, das Fries schon immer betrieben hat: die Verwischung der Grenzen zwischen Leben und Traum – „La vida es sueño“, wie es bei Calderón heißt.

Dass die programmatische Verwechslung von Realität und Fiktion nicht unschuldig ist, auch als Nebelkerzenwerferei gedeutet werden kann, weiß Fries selbst am besten. Doch mit dem allgegenwärtigen Verdacht seines Personals, Spielball in einem Komplott zu sein, im Zeitalter des politischen Entscheidungszwangs zwischen Geheimdiensten aufgerieben zu werden, bringt Fries seine IM-Vergangenheit selbst immer wieder aufs Tableau. Tatsächlich tragen seine Bücher seit zwanzig Jahren auch den Charakter halbherziger Entschuldigungs- und trotziger Verteidigungsschriften.

Sie verweigern – zu Recht – Eindeutigkeit, wo sie so einfach nicht zu haben ist und singen das Hohelied des Konjunktivs, der den Möglichkeitssinn wachhält, aber auch in die Isolation führen kann: „Niemand würde später die Überzeugung des alten Mannes teilen“. Obwohl diese Bücher meist ebenso viel „Welthaltigkeit“ liefern wie eine ganze Saisonproduktion deutschsprachiger Jungautoren, betreiben sie zugleich ihren Entzug ins Gefilde von Romanen oder Träumen von Romanen.

„Last Exit to El Paso“ ist aber nicht nur ein Roman der Flucht, es ist auch ein Roman der old men Arronax und Arcimboldi, die sich mit einem gerüttelt Maß an Selbstironie und ihren Medikamentationen herumschlagen: „Der Weg ist weit, und die Tiere sind alt.“ Trotz aller Altmännereitelkeit und eines iberisch inspirierten Machismus werden hier auch Niederlagen in den politischen Auseinandersetzungen und der Liebe verzeichnet. Doch auf die Idee, dass Calderóns Prämisse falsch sein könnte, scheinen Arronax und Arcimboldi nie zu verfallen: Wenn das Leben kein Traum wäre? Wenn hier reale Verletzungen stattfänden und Personen sich nicht wie Figuren über Textseiten schieben ließen?

Nachdem Fries zuletzt nur noch für Aficionados sichtbar durch mehrere Verlage geisterte, hat sein spektakuläres, damals nur im Westen bei Suhrkamp publizierbares Debüt „Der Weg nach Oobliadooh“ (1966) im letzten Herbst Eingang in die Andere Bibliothek gefunden. Dass der neue Roman nun bei Wallstein erscheint, ist ein gutes Zeichen. Damit wird der Autor endlich wieder über die literaturbetriebliche Wahrnehmungsschwelle gehoben. Er könnte endlich dort seinen Platz finden, wo er hingehört: in den Kanon deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts. Weil er wie wenige die Verwindungen eines Zeitalters bezeugt: zwischen Ästhetik und Ethik, zwischen dem Wunsch nach Partizipation an Gesellschaft und vom Rückzug aus ihr, zwischen hochfliegenden Hoffnungen auf die Macht der Literatur und der Resignation über ihre Mittel. Und das alles auf höchstem Niveau. Steffen Richter

Fritz Rudolf Fries: Last Exit to El Paso. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 192 S., 19,90 €.

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