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Kultur: Auf Stacheldraht

„Linocut Reloaded“ bei Wagner + Partner: Junge Künstler entdecken den Linolschnitt neu

Als Ulrike Meinhof 1969, ein Jahr vor Gründung der RAF, in der Nähe von Kassel über die skandalösen Zustände in einem Mädchenerziehungsheim recherchierte, entstand ein Foto: Meinhof und fünf Männer vor der Anstalt, sie blickt kritisch durch ihre markante Brille. Es ist das Bild einer engagierten Journalistin, die sich für Erziehungsrechte von Kindern, insbesondere junger Mädchen, einsetzt.

Der Künstler Thomas Kilpper hat in kräftezehrender Arbeit dieses Bild in den Linolfußboden der Kantine des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit an der Normannenstraße gekratzt („Ulrike Meinhof (*1934, †1976), Mädchenerziehungsheim Guxhagen bei Kassel (1969)“. 180 x 240 Zentimeter misst der so entstandene Linoldruck (10 700 €), der die Anspannung und Dramatik des Augenblickes unmittelbar zuspitzt. Reduziert auf grobe, teils abstrakte Linien schildert Kilpper politisches Zeitgeschehen in einer Technik, die von den deutschen Expressionisten vor allem wegen seiner kraftvollen Ausdrucksweise geschätzt und nach 1945 bloß noch marginal eingesetzt wurde.

Die Galerie Wagner + Partner tritt nun den Beweis an, dass dieses Medium sehr wohl auch ins 21. Jahrhundert passt. In Kooperation mit der Galerie Hunchentoot zeigt sie mit der Ausstellung „Linocut Reloaded“ vier zeitgenössische Positionen zum Thema Linolschnitt. Welten in Schwarz-Weiß und Grau, die – mal raumgreifend, mal kleinteilig – die traditionelle druckgrafische Technik in die Gegenwart transportieren. Der junge Künstler Sebastian Speckmann, ehemaliger Schüler von Neo Rauch, macht auf die frühere Funktion der Holz- und Linolschnitte aufmerksam. Schon während der Französischen Revolution und später in der Weimarer Republik wurden sie zur Vervielfältigung von Propaganda- und Werbeplakaten sowie Flugzetteln benutzt. Mit einer wuchtigen Litfaßsäule beruft sich Speckmann darauf: Originale Flugblätter und Werbeplakate, vom Künstler als Linoldruck reproduziert, lösen sich von der wuchtigen Säule. Dahinter ist seine Installation „Ohne Titel“ zu sehen. Aus gut zwanzig kleinen Drucken setzt sie sich zusammen. Ein Kaleidoskop naiver Szenen, Interieurs, Architekturen, Landschaften und Menschen in beinahe pointillistischer Manier kleinteilig in die Linoleumplatten geritzt. Detailliert arbeitet auch Philipp Hennevogel. Allerdings bildet er diffizile, aufwendige Strukturen wie ein komplexes Baugerüst oder hunderte verworrener Kabel auf Großformaten ab. Chaos verwandelt sich durch die grafische Umsetzung in Ordnung. Die Arbeit „Wasserfall“ (8300 Euro) spaltet auf 200 x 112 Zentimeter die komplexen Strukturen von fallendem Wasser auf und gefriert sie in einem Moment.

Die letzte Künstlerposition ist gleichzeitig die düsterste und beeindruckendste. Claas Gutsche zeichnet, ähnlich wie Kilpper, mediale Bilder nach. Für „Hunger (Wuestefeld)“ hat er das Foto des Fachwerkhauses von Armin Meiwes, des „Kannibalen von Rotenburg“ aus einer imposanten Linolplatte geschnitten. Die Szene wirkt unheimlich grau und dunkel. Mit feinsten Schnitten und wenig Platz für Helles wirkt das Bild beim flüchtigen Hinsehen fast wie ein unterbelichteter Abzug des eigentlichen Fotos. Erst bei der näheren Betrachtung offenbart sich die Technik – ein Arbeitsprozess, der so aufwendig ist, dass Gutsche regelmäßig an seine körperlichen Grenzen stößt.

Seine Bilder sind auf einer Stacheldraht-Tapete angebracht, die der Künstler ebenfalls im Linoldruckverfahren gefertigt hat. Beklemmend und faszinierend beherrschen Gutsches Arbeiten und Tapeten die Ausstellungsräume an der Karl-Marx-Allee. Lena de Boers

Galerie Wagner + Partner, Karl Marx Allee 87; bis 20. 8., Di–Sa von 12–18 Uhr.

Lena de Boers

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