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Kultur: Aufrührer und Amazonen

Berlins freie Tanzszene: das Festival „Ausufern“.

Von Sandra Luzina

Für Anik war es das Debüt bei einem Tanzfestival. Doch sie wusste instinktiv, dass sie nicht viel machen muss, um die Blicke der Zuschauer auf sich zu ziehen. Anik ist eine braune Stute, die in der Performance „Intimate Nature“ schon mal die nackten Brüste von Christine Borch mit ihren weichen Nüstern berührt. Die dänische Choreografin möchte zu einer „Neuverbindung von Mensch und Tier“ ermutigen. Am Ende steigt sie aufs Pferd und reitet hinaus aufs Gelände der Weddinger Uferstudios – fast wie eine Amazone.

Ein symbolträchtiger Anblick. Denn die freie Szene gibt sich derzeit enorm kämpferisch und ruft zu Protestaktionen gegen die Förderpolitik des Senats auf. Wer das Festival „Ausufern“ besucht, sieht als Erstes das rote Feuerwehrauto, das zu Einsätzen in der ganzen Stadt ausrückt. Doch beim Tanz-Marathon in den Uferstudios ging es weniger darum, Alarm zu schlagen. Hier wollte die Szene vor allem durch ihre Kreativität auf sich aufmerksam machen. Und lockte ein internationales Publikum an, das diese großzügigen Berliner Künstlerwerkstätten bestaunte.

Das Gelände des ehemaligen Straßenbahndepots mit den 14 Studios ist allein schon ein Attraktion. Und bei vielen der 40 Aufführungen konnte man sich wie in der Werkstatt fühlen oder auf dem Campus. Die Atmosphäre hat etwas studentisch Improvisiertes. Und es mischten sich auch viele Studenten des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz (HZT) unter die Choregrafen. Schabernack und ernsthafte Recherchen – bei „Ausufern“ wurde beides geboten.

Gemäß dem Motto „Ausufern“ schwärmten die Tänzer auch in die Umgebung aus. Bei kleinen Exkursionen konnte man den wilden Wedding neu entdecken. Wer sich die Performance von Tian Rotteveel ansehen wollte, musste zuerst das Flüsschen Panke überqueren und stieß dann auf die Bibliothek am Luisenbad, ein architektonisches Juwel. Der niederländische Choreograf und Komponist kombiniert in „Propellor“ auf gewitzte Weise Sound, Bewegung und Sprache. Die Zuschauer steigen hoch in die dritte Etage, wo Rotteveel in einem kleinen Raum eine Art Live-Hörspiel aufführt. Bis er ausbüchst – und wenig später im Freien auftaucht. Die Zuschauer verfolgen seine Aktionen nun vom Fenster aus und lauschen dabei einer Collage alter Filmmusiken. Durch den stimmungsvollen Soundtrack ändert sich die Wahrnehmung: Alltägliche Bewegungen wirken auf einmal emotional aufgeladen. Und im Kopf entsteht ein heiterer Berlin-Film.

Britta Wirthmüller lässt in „Jean Weidt – Physical Encounters“ anfangs eine Arbeiterfanfare erklingen, verzichtet dann aber auf jede Musik. Die Choreografin zeigt eine Annäherung an das Werk des „roten Tänzers“ Jean Weidt, der in den 20er Jahren Themen der Arbeiterklasse auf die Bühne brachte. Die drei Tänzerinnen unterstreichen zunächst die Distanz zu dem expressionistischen Pathos, doch wie sie sich dann die Bewegungen Weidts aneignen, ist toll.

Die geballte Faust, die Revolte des Körpers – das ist zwar plakativ, aber hat auch tänzerische Durchschlagskraft. In den Variationen, die die Tänzerinnen am Ende zeigen, wird der Körper dann nicht mehr zum Fanal. Das Stück ist eine spannende Auseinandersetzung mit der Tanzgeschichte – und lässt sich mit dem Heute kurzschließen. Denn Aufrührer und Amazonen braucht die Szene für die bevorstehenden Kämpfe. Sandra Luzina

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