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Aufschlag: Die Missverstandenen

Heutzutage nutzen alle die Hintertür des Missverständnisses dazu, von eigenen Torheiten abzulenken: Rainer Moritz über die grassierende Uneinsichtigkeit.

Ich bin wie alle anderen. Ständig fühle ich mich missverstanden und missinterpretiert. Mehrmals am Tag wundere ich mich darüber, wie meine kristallinklaren, wohlgesetzten Worte von Kollegen oder Verwandten, ja, selbst von der eigenen Ehefrau aufs Gröbste entstellt werden. Mir ist das unbegreiflich, aber immerhin stehe mit dieser Haltung nicht alleine da. Denn heutzutage verstehen alle einander nicht, heutzutage nutzen alle die Hintertür des Missverständnisses dazu, von eigenen Torheiten abzulenken.

Fehler einzuräumen und zuzugeben, Mist gebaut zu haben, das ist in unserer Gesellschaft unchic geworden, erscheint wie ein Relikt aus Zeiten, als fehlende Moral nicht nur schlechten Fußballmannschaften vorgeworfen wurde. Schuld daran, würde Eva Herman sagen, sind die Achtundsechziger, diese Zusammenrottung von Wertezerstörern. Und natürlich waren Frau Hermans preisende Worte für die Hervorbringungen der Nazizeit kein Zeugnis ihrer Dämlichkeit, sondern ein bedauerliches „Missverständnis“.

Ganz so wie bei Ministerpräsident Günther Oettinger, der den toten Richter Filbinger zum Widerstandskämpfer deklarierte und die sich anschließende Kritik keineswegs zum Anlass nahm, seinen Redeinhalt zu bedauern, sondern lediglich die – selbstverständlich nicht beabsichtigten – „Missverständnisse“. Oder Schauspielerin Winona Ryder, deren Anwalt, als sie in Beverly Hills beim Ladendiebstahl ertappt wurde, jede Absicht abstritt und von einem bedauerlichen Missverständnis sprach, das in diesem Fall sogar einer Videokamera unterlaufen war. Weil es so einfach ist, von selbst verschuldeten Verirrungen abzulenken, griff auch Kölns Kardinal Meisner zu dieser wohlfeilen Zuflucht. Der berüchtigte Kirchenmann zeigte sich sofort zerknirscht darüber, dass sein – natürlich verkürzt wiedergegebenes und aus dem Zusammenhang gerissenes – Zitat „Anlass zu Missverständnissen“ gegeben habe.

Wer sich missverstanden fühlt, lenkt von sich selbst ab, tut so, als hätte er Wahrheiten geäußert, für die die ignoranten Zeitgenossen nur noch nicht reif seien. Genau genommen geht es um die beschränkte Auffassungsgabe der Falschversteher. Hätten sich die Herman-, Oettinger- oder Meisner-Zuhörer nur ein bisschen mehr Mühe gegeben, wäre ihnen die Weisheit des Gesagten, das richtige Verständnis nicht verborgen geblieben. Alle Herman-, Oettinger- und Meisner-Verehrern möchte ich an dieser Stelle warnen. Schreiben Sie mir nicht, beschweren Sie sich nicht. Der Fehler liegt bei Ihnen, ein Missverständnis, das ich nicht einmal bedauere.

Rainer Moritz

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