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Kultur: Augenblick, du schöner, verweile und flieh

Zeugnisse einer ungewöhnlichen Künstlerfreundschaft: Henri Cartier-Bresson und Alberto Giacometti im Kunsthaus Zürich

Der eine Fotograf, der andere Bildhauer und Maler. Der eine blickte durch die Kamera auf das Leben, der andere mit dem inneren Auge. So unterschiedlich diese künstlerischen Erschließungstechniken von Henri Cartier-Bresson und Alberto Giacometti auch gewesen sein mögen, so hatten die beiden doch vieles gemeinsam – in ihrer Kunstauffassung und in ihrem Wesen. Wie der Schweizer Giacometti stieß auch der Franzose Cartier-Bresson, der als junger Mann Malerei studiert hatte und im Alter zur Zeichnung fand, im Paris der Zwanziger- und Dreißigerjahre zu den Surrealisten. Und wie Giacometti überwand Cartier-Bresson den Surrealismus, indem er zum Realen zurückkehrte. Rasch befreundeten sich die beiden Eigenbrötler, als sie sich Mitte der Dreißigerjahre in Paris kennen lernten. Sie sollten einander nahe bleiben – ein Leben lang.

Diese Künstlerfreundschaft ist jetzt Gegenstand einer Ausstellung im Kunsthaus Zürich. Dort befindet sich die heute weltweit bedeutendste Sammlung von Werken Giacomettis. Mit der Schau werden die neuen, dem Künstler gewidmeten Räume eingeweiht. Sie gibt einen Querschnitt durch das Schaffen des Bildhauers: vom nachimpressionistischen Frühwerk über die kubistische und surrealistische Phase bis hin zu den markant dünnen Figuren und dem Spätwerk mit seiner wieder realistischeren Menschendarstellung.

Als Giacometti und Cartier-Bresson einander begegnen, sind beide künstlerisch von neuen Aufbrüchen fasziniert. Giacometti kehrt 1935 zum Modellstudium zurück und setzt sich seitdem mit ägyptischer und mesopotamischer Skulptur auseinander. Und Cartier-Bresson, der nach eigenen Worten aufgehört hatte, „Bilder wie Gedichte schaffen zu wollen, um fortan erzählend, in Sequenzen, diese Welt zu schildern“, sucht in der Auseinandersetzung mit der Alltagsrealität die flüchtige Wirklichkeit einzufangen. Die offenbart sich ihm im instant décisif – dem entscheidenden Augenblick, den er mit seiner Leica erfasst.

Auch Giacometti ist der flüchtigen Wirklichkeit auf der Spur. „Die ganze Arbeit der modernen Künstler“, äußert er einmal, „erklärt sich aus diesem Willen, etwas zu erfassen, das einem ständig entflieht“. In seinen Paris-Lithografien spiegelt sich das Ephemere des Lebens im flüchtigen Strich selbst. Vibrierend, bewegt, transitorisch und schemenhaft, ja schematisch erscheint hier alles. Dies findet sich auch bei Cartier-Bresson wieder, der Anfang der Siebzigerjahre den Fotoapparat gegen den Bleistift eintauscht.

Der Fotograf zeichnet Stadtansichten von Paris – die Tuilerien, Gebäude, Straßenzüge, auch Motive aus dem Naturhistorischen Museum. Ähnlich wie bei Giacometti sind die Zeichnungen geprägt von einer Schemenhaftigkeit und dem Verzicht auf ausgeführte Details. Fast sichtbar weht der Wind der Vergänglichkeit durch diese Blätter. Es wiederholt sich hier, was sich schon an den Aufnahmen der Dreißigerjahre beobachten lässt. Denn der Mann, den Cartier-Bresson 1932 beim Sprung über eine Wasserlache „Hinter dem Gare St. Lazare“ in Paris fotografierte, ist in seiner schemenhaften Unschärfe eine Personifikation der Flüchtigkeit. Fast dreißig Jahre später, 1961, hat Cartier-Bresson den Künstlerfreund in ähnlich ephemerer Situation in seinem Heimatdorf Stampa im Bergell abgelichtet. Aus demselben Jahr stammt auch eine Aufnahme, die den Bildhauer inmitten seiner Figuren zeigt – sozusagen im Gleichschritt mit einem seiner „Hommes qui marchent“ und so schemenhaft wie der Wasserspringer.

Immer wieder blitzen in der direkten Gegenüberstellung von Fotografie und Plastik überraschende Parallelen auf. So findet der vor einer Mauer taumelnde Junge auf Cartier-Bressons „Valencia, Spanien“ von 1933 – ein Bild der Verlorenheit – einen Wiedergänger in Giacomettis „Homme qui chavire“ von 1950 (das Verb „chavirer“ oszilliert im Französischen zwischen „aufwühlen“, „schwanken“ und „kentern“). Manchmal wirken seineAufnahmen wie fotografische Variationen über Themen Giacomettis. So nehmen seine von erhöhten Standpunkten aufgenommenen Fotografien von 1933, die einen Platz mit umherirrenden Menschen zeigen, Giacomettis Platz-Situationen mit schreitenden Menschen gestisch und atmosphärisch vorweg.

Die Nähe der beiden ist mitunter so frappierend, dass man den Eindruck gewinnt, Cartier-Bresson wolle die Plastiken seines Freundes illustrieren. So findet Giacomettis „Mensch, der im Regen geht“ von 1948 dreizehn Jahre später ein Pendant in einer Momentaufnahme, auf der der Bildhauer selbst mit über den Kopf gezogenem Mantelkragen durch den Regen geht. Ihre zeichnerischen und fotografischen Porträts von Künstlern und Literaten wie Matisse, Strawinsky und Sartre atmen ein und denselben Geist. Keine Spur von Erhöhung zum Malerfürsten oder Geistesriesen.

Hier wie dort erscheint der Mensch in seiner Verletzlichkeit und Begrenztheit. Und gleichzeitig in seiner unverlierbaren Würde.

Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, bis 7.August. Katalog 45 Schweizer Franken

Hans-Dieter Fronz

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