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Kultur: Aus! Aus! Aus!

Deutschland ist Weltmeister der Herzen – kleine Szenen und große Gefühle

UND BALLACK PLATT

„Es geht nicht darum, sich feiern zu lassen“, hat Christoph Metzelder gesagt, und das ist allemal schon ein bemerkenswerter Satz für einen 25-Jährigen, der an diesem Sonntag über die Köpfe von Hundertausenden blickt, die auf die Berliner Fanmeile gekommen sind, „es geht darum, einfach Danke zu sagen.“ Christoph Metzelder hat eine grandiose WM gespielt. Er hat die Viererkette zusammengehalten, genau dort, wo man sie für besonders verwundbar hielt. Er hat eine vormals als labil geltende Mannschaft stabilisiert – und wenn es stimmt, was alle sagen, ein ganzes Land gleich mit.

Knappe vier Wochen lang hat er das getan, von Minute zu Minute sicherer werdend, bis zu jenem verflixten 4. Juli um 23 Uhr 26, als er gerade auf Nachtschicht war für Deutschland im Dortmunder Westfalenstadion. Doch als Fabio Grosso in der 119. Minute im Strafraum auftauchte, ausgerechnet vor der Südtribüne, in seinem Wohnzimmer sozusagen, da konnte auch Christoph Metzelder nichts mehr ausrichten. Es ist ihm kein Trost gewesen, dass Grosso nicht sein Mann war. Michael Ballack hätte näher rangemusst an den Schützen des 0 : 1. Er hätte das bestimmt auch sehr gerne getan. Doch Ballack war platt. Christoph Metzelder hat danach gesagt: „Wir konnten leider nicht zeigen, dass wir eine historische Mannschaft sind. Im Sport bleibt letztendlich nur der Erste haften. Dieses Ereignis wird in den nächsten Jahren immer mehr in Vergessenheit geraten.“

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WIR STEHAUFMÄNNER

Ich habe Jens Lehmann vor der Gedächtniskirche gesehen. Er stand im Tor beim Spiel gegen Argentinien. Ich stand inmitten der am Boden und auf Bänken hockenden Kinder vom Bahnhof Zoo und der Obdachlosen, und schaute ihm im Fernsehen zu. Die Kinder und die Obdachlosen sahen sehr fertig aus, fertig von Drogen, von Alkohol, vom Leben, das es nicht gut mit ihnen meinte oder das sie weggeworfen haben. Ein paar Wochen zuvor hatten wir Jens Lehmann zu einem Interview in London-Hampstead getroffen, einem Ort, an dem das Leben es sehr gut mit den Menschen meint. Lehmann ist keiner, der nichts weiß vom anderen Ende des Schicksals. Und doch – was für ein Gegensatz. Es ging in die zweite Hälfte der Verlängerung. Zwei Männer standen auf, sie hatten Trikots der Deutschen an, sie gehörten nicht zur Szene vom Zoo. Sie sangen: „Steht auf, wenn ihr für Deutschland seid.“ Die Obdachlosen versuchten zu folgen. All die Penner, die Berber, die Zahnlosen, die Loser wollten sich erheben. Sie schwankten, einige fielen wieder um, eine Frau plumpste wieder auf die Fresse. Im Fernsehen drückte Oliver Kahn die Hand von Jens Lehmann. Aber die Penner schafften es, sie standen, sie klatschten, sie sangen. Sie konnten den Rhythmus nicht halten, ihr Gesang war unverständlich. Lehmann hielt den Elfmeter. Das war die Stütze. Die Berber strafften sich. Lehmann hielt noch einen Elfmeter. Doch, doch, es war auf einmal Stolz zu sehen in diesen sonst so trüben Augen vom Bahnhof Zoo. Und dann tanzten sie und jubelten und es sah so aus, als spürten sie ihre Würde. Und das haben Jens Lehmann und auch Oliver Kahn geschafft. Helmut Schümann

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WIR IROKESEN

Interessant war zu sehen, wie sich Ekstase nicht beschreiben lässt. Vielen erschien plötzlich alles federleicht – die Stadt, das Leben, der neue ach so pathosfreie Party-Patriotismus. Vier Wochen lang Gäste aus aller Welt, die Deutschland im Allgemeinen behaglich und überfüllte ICE-Großraumwagen im Besonderen komfortabel fanden. Es ging darum, diesen Zustand möglichst treffend zu beschreiben: Ekstase, Schwarz-Rot-Geil, das Zusammengehörigkeitsgefühl einer besoffenen Klassenfahrt in Verlängerung. Auch Skeptiker und Nicht-Tänzer wurden infiziert. Aber zu beschreiben war das nicht.

Für mich war der größte Spaß, dass Herbert Grönemeyer mit seinem Lied gescheitert ist. Nichts gegen Grönemeyer, aber diese WM war die WM der sympathischen Sportfreunde Stiller, die sich ohne Erwartungsdruck an die Spitze der Hitparade gesungen haben. Und es war meinetwegen auch die WM von Xavier Naidoo – alles coole, junge Männer, ungefähr so alt wie unsere Nationalspieler. Grönemeyer, der noch älter ist als Zidane und Figo, wird sich jetzt was überlegen müssen.

Ach ja, und noch etwas, was sich in Hirn und Herz eingebrannt hat: die Ladenöffnungszeiten. An einem spielfreien Freitag war ich um 21 Uhr 30 beim Friseur Klier in den Schönhauser Allee Arcaden. Auf einem Grabbeltisch lagen Irokesen-Perücken in den deutsche Nationalfarben. Die Friseurin hob entnervt die Schultern. „Man kann’s echt auch übertreiben“, sagte sie.

Ein dritter Platz und Läden, die sonntags geschlossen bleiben – damit kann man prima leben. Esther Kogelboom

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UND KLINSI SINGT

„Einigkeit und Recht und Freiheit“, das ist nicht meins. Das Lied eines Landes der Bedenken und des übertriebenen Selbstbewusstseins. 9. Juni 2006, Eröffnungsspiel in München. Das Stadion, in drei Farben getaucht, erhebt sich. Die Hymne erklingt, Zehntausende stimmen an. Unten am Spielfeldrand, ein paar Meter entfernt nur, steht Jürgen Klinsmann und singt. Es ist in sich und diesen Moment versunken, wie alle hier. „Einigkeit und Recht und Freiheit“, das ist seins. Alle singen. Ich kann nicht. Aber ich würde gerne, zum ersten Mal in meinem Leben.

Klinsmann hat von Kalifornien aus den Deutschen Fußball-Bund auseinander genommen und einem Jens Lehmann und einem David Odonkor Vertrauen geschenkt. Mit Selbstbewusstsein, aber nicht übertrieben. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt.“ Das war meine Hymne, auch weil sie in der DDR nicht gesungen werden durfte. Wegen folgender Worte: „Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland.“ Wie gut hätten diese Zeilen zur Wiedervereinigung gepasst, zu einem Neuanfang für alle. Verschenkt.

Jetzt ist der Neuanfang da, und schuld daran ist ein Trainer, der ihn gegen Bedenken erzwungen hat. Und eine Mannschaft, die füreinander rennt und miteinander feiert in drei Farben, als gebe es nichts Normaleres. Während der WM habe ich neidisch auf die ausländischen Fans geschaut – mit fröhlich orangefarbenen Hüten die Holländer, mit weißen Hemden über den roten Stiernacken die Engländer. Zu Zehntausenden zeigten sie in Leipzig und Stuttgart und Berlin, wie man weltgewandt und stolz zugleich sein kann. 8. Juli 2006, in einem Biergarten in Prenzlauer Berg. Die „taz“ wird verteilt. Selbst hier tragen alle Deutschland-Flaggen und Deutschland-Schminke. Die Hymne erklingt, die jungen Spieler stehen Schulter an Schulter. Das ist meine Mannschaft. Mein neues Land.

Ich stehe auf und singe. „Einigkeit und Recht und Freiheit.“ Es ist nicht mehr schwer. Robert Ide

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