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Kultur: Aus dem Leben eines Fauns

Meister der Masken: Die Frankfurter Schirn entdeckt in James Ensor den Zeitgenossen

In Tim Burtons jüngstem Film „Corpse Bride“ tanzen die Skelette auf dem Tisch. James Ensor hätte seine Freude daran gehabt. Keiner hat so oft Skelette gemalt wie er: fröhliche Skelette, nachdenkliche Skelette, höhnische Skelette. Sie sitzen gemütlich im Lehnstuhl und blättern in Chinoiserien, sie spielen Flöte und Cello, sie stehen – fein im blauen Anzug – an der Staffelei und malen, oder sie streiten sich um einen sauren Hering. Das schönste Skelett jedoch ist ein Selbstporträt. Es lehnt entspannt in der Ecke, an den Füßen noch die Pantoffel, auf dem Kopf sprießt das letzte Haar. „Mein Porträt im Jahr 1960“ hat Ensor unter die Zeichnung geschrieben. Angefertigt hat er sie 1888. Da war er gerade 28 Jahre alt. 1960 wäre er 100 geworden.

Als Skelett- und Maskenmaler ist James Ensor bekannt – der dritte berühmte Belgier neben Magritte und Delvaux. Keiner war so modern wie er, sagt Schirn-Chef Max Hollein und rühmt die Frische und Unverbrauchtheit der Werke. Keiner sei auch so einflussreich für andere Künstler gewesen wie Ensor, der von Emil Nolde, Heckel, Kandinsky und Albert Einstein besucht wurde, sekundiert Kuratorin Ingrid Pfeiffer. Und keiner gilt trotzdem bis heute so sehr als Geheimtipp. Die mit rund 150 Werken gut bestückte Gesamtschau in der Frankfurter Schirn, die nun als Jahresend-Highlight beworben wird, ist die erste große Ensor-Ausstellung seit 1972 in Deutschland. 1999 allerdings wurde Ensors 50. Todestag in Belgiengroß gefeiert: Das Nachbarland pflegt seine Künstler, der belgische König hat nun auch die Schirmherrschaft für die Frankfurter Ausstellung übernommen.

Dass Ensor ein Liebling der Moderne ist, verwundert nicht. Über kaum jemanden gibt es so schöne, skurrile Anekdoten. Der gescheiterte Akademiestudent, der sich beleidigt in seine Geburtsstadt Ostende zurückzieht und dort bis zu seinem Tod in der Dachmansarde über der Wohnung seiner Eltern eine einzigartige Kunst-Wunderkammer aufbaut: voller Chinoiserien, Masken, selbstzitierender Bilder. Ensor schöpft sein Themenarsenal aus den Souvenirläden, die Mutter, Großmutter und Tante in dem Badeort unterhalten. Leidenschaftlich setzt er sich für Tierschutz, Denkmalpflege und den Schutz der Dünen ein, komponiert Ballettmusiken, hält dadaistische Reden und spielt auf seinem Harmonium nur auf den schwarzen Tasten. Es gibt ein Foto von ihm, da hockt er über den Dächern von Ostende und spielt Flöte: ein an Karl Valentin erinnernder Faun. Verwunderlich eigentlich, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, Ensors Leben zu verfilmen. Den englischen Exzentrikern von Oskar Wilde bis C.S. Lewis kann er locker das Wasser reichen.

Überraschenderweise ist der so gepriesene Maler der Moderne in der Frankfurter Ausstellung zunächst sehr dem 19. Jahrhundert verhaftet. Zwar hat man das Frühwerk, die düsteren, akademischen Interieurs aus Ostende und aus seiner Zeit an der Brüsseler Kunstakademie, bewusst ausgespart, hat sich auch gegen eine chronologische Hängung zugunsten von Themenkomplexen entschieden. Doch die Welt der wilden Fantastik, der drastischen Akademiekritik, der Travestie und Blasphemie ist im Rückblick deutlich ihrer Zeit geschuldet. Nicht umsonst hat sich Ensor selbst – keineswegs der weltfremde Einsiedler, als der er gilt – auf Edgar Allan Poe, Heine und Balzac berufen, hat die „Versuchung des Hl. Antonius“ nach Flaubert gemalt und fleißig mit Zeitgenossen korrespondiert.

Der ganze Spuk der Geister und Gespenster, die Todessehnsucht des Symbolismus ist in seinen Bildern enthalten, und seine mystischen Christus-Personifikationen erinnern gewaltig an Lovis Corinth.

Todessehnsucht, Todesangst: Ist es das, was aus Ensors Bildern, aus dieser obsessiven Beschäftigung mit den Skeletten spricht? Der mittelalterliche Totentanz kennt das Motiv der tanzenden Skelette, Ensor selbst hat sich immer wieder vehement für Friedhofspflege eingesetzt. Im Sandboden von Ostende lagern noch die Gebeine der im Krieg Gefallenen – und es gibt makabre Fotografien, auf denen James Ensor mit seinem Freund Ernest Rousseau am Strand von Ostende mit Knochen spielt. Das Skelett, das in der Wohnung des Medizinstudenten Rousseau aufbewahrt wurde, hatte einen Namen: Es hieß Aglaé. Doch Ensors Skelette sind weniger gruselige Memento mori als Staffagepuppen. Nicht den Pesthauch, nicht den Krieg, nicht den Tod über den belgischen Straßen personifizieren sie, sondern eine von allen irdischen Rücksichten freie Kunst. Der Künstler malt sich gerne als Skelett.

Vor allem malt er sich gern selbst. Über 100 Mal hat Ensor sich porträtiert, darin seinem großen Vorbild Rembrandt nacheifernd. Doch es ist ein stilisiertes, ironisiertes, persifliertes Ich, das aus diesen Physiognomien spricht. In dem wunderbaren kleinen Bild etwa, mit dem die Frankfurter Ausstellung eröffnet, streiten sich zwei Skelette um einen sauren Hering. „Un Hareng saur“, das ist ein Wortspiel mit „Art Ensor“, jener Kunst Ensors, die der Maler in dem Bild „Die gefährlichen Köche“ seinen Kritikern auf dem Silbertablett servieren lässt – den Kopf des Künstlers, mit einem Hering garniert. Die Kritiker jedoch kotzen schon vorher. Der Künstler als Hering und als Skelett, als Rubens-Wiedergänger mit blumengarniertem Frauenhut oder als Christus am Kreuz – das Rollenspiel, das Maskenspiel liegt in Ensors Natur. Und es wird gewiss nicht nur der Karneval in Ostende gewesen sein, der ihn dazu inspirierte.

Und doch hat Museumschef Max Hollein Recht, wenn er in Ensors Bildern eine besondere, moderne Frische erkennt. Eine Frische der Farben – Zusammenstellungen wie Gelb-Rosa, dem Spätwerk entlehnt, wirken auf der Schirn-Einladungskarte geradezu pop-modern – wie auch eine des Witzes: Er ist keineswegs die beleidigte Leberwurst, der von Akademie und Zeitgenossen verkannte Künstler, der sich bitter und gnadenlos rächt, wenn er Kirche, Staat, Mediziner, Juristen und Kritiker ausnahmslos bloßstellt. Er ist vielmehr der mit einem rabelaishaften, breiten Lachen über die Niedrigkeit des Lebens hinwegdonnernde Freigeist. Ensors Humor kennt keine Zügel und kein Ziel, erst recht keinen Zeitgeist. Er wirkt heute genauso jung wie vor hundert Jahren. Im Hintergrund klappern und grinsen dazu die Skelette.

James Ensor, Schirn, Frankfurt am Main, bis 19. März 2006. Katalog bei Hatje Cantz, 29,80 €, im Buchhandel 39,80 €.

Christina Tilmann

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