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Nörgelbürger. Die Stimmung bei der Chorprobe vor dem Auftritt am Sonnabend ist großartig.

© Paul Zinken

Aus Frust, mach Lust!: Berliner Beschwerdechor mit der Parole Nörgeln

Von Birmingham bis Tokio, von Köln bis ins brasilianische Kaff Teutonia: Immer öfter singen Bürger ihre Sorgen lauthals heraus. Pünktlich zur Wahl machen auch Berliner ein großes Gezeter.

Eins steht fest: Berlin ist verwahrlost, kalt, böse! Berlin ist eine Schande, peinlich vor den Augen der restlichen Welt!

Das tat gut. Sich beklagen, sich beschweren, das gehört hier zum Alltag: Sorgenabfuhr, Ventilfunktion. Das Berliner Missvergnügen setzt allem aktuellen europäischen Unbehagen die Krone auf. Die „Empört euch!“-Streitschrift: Warum hat die eigentlich kein Zehlendorfer oder Friedrichshainer geschrieben?

Im Musiksaal der Menzel-Oberschule im Hansaviertel wird der Berliner Frust in Lust verwandelt. Hier probt der Beschwerdechor. Drei Dutzend Frauen und Männer skandieren Zeile für Zeile, schmettern immer wieder eine einzige Frage: „Wer kauft den ganzen Bioplunder?“ Und dann die Klage: „Auf Gehwegen die Hundehaufen liegen!“ Sind das Bio-Fundamentalisten? Kiez-Sanierer? In der Probenpause gibt Chormitglied Birgit, die schön konspirativ gern beim Vornamen bleiben möchte, dem Besucher zwei kämpferische erste Hinweise: „Der Chor ist keine Satire! Die Politik ist die Satire!“

Erfunden wurden Beschwerdechöre von dem finnisch-deutschen Künstlerpaar Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen. Im Finnischen gibt es ein Wort für notorische Meckerer: Valituskuoro. Zu Deutsch: Beschwerdechor. Die Kalleinens nahmen den Begriff einfach beim Wort. Seit 2006 stellen sie überall auf der Welt solche Chöre auf die Beine: Von Birmingham bis Tokio, von Köln bis ins brasilianische Kaff Teutonia singen Bürger ihre Sorgen lauthals heraus, immer schneller gründen sich selbstständig neue Projekte.

In der Menzel-Oberschule – erstes Stockwerk, fahles Neonlicht – hat sich die Avantgarde des Berliner Nörgeltums eingefunden. Die meisten der Männer und Frauen haben keine Gesangsausbildung. Alle haben sie auf den Aufruf reagiert, Stänkereien mitzubringen und einzustudieren. Für das große Zeterlied wurden aber auch Beschwerden anderer Bürger angenommen und in den Text hineingemengt. Ätzendes Meckern und melodiöses Chorsingen scheinen chemisch aufeinander zu reagieren.

In den Ohren des Besuchers vollzieht sich eine unheimliche Transformation: Klage auf Klage verwandelt sich in etwas anderes, seltsam Hübsches: „Das Geld ist lange aus der Stadt verschwunden“, zwitschern die Soprane. „Im Hausflur ein Kinderwagen brennt“, schwelgen Tenöre und Bässe. „Fahrrad-Rambos sind hinter dir her“, schimpfen die Altstimmen.

Ins Leben gerufen hat den Chor die Berliner Literaturwerkstatt, für ihr Fest zum 20. Geburtstag am Sonnabend in der Kulturbrauerei. Natürlich sei es Absicht, sagt Boris Nitzsche von der Literaturwerkstatt, dass der Chor am Vorabend der Abgeordnetenhauswahl auftritt: „Damit klar wird, was in Berlin stört und was vielleicht geändert werden kann.“

Lesen Sie auf Seite 2, was die Berliner alles plagt.

„Im Müggelsee bald nur noch Kerosin / Und Friedrichshagen hinterm Lärmschutzwall“: Solche Klagen werden leichtfüßig angegangen. Im Musiksaal lautet die Losung von Chorleiter Frank Markowitsch: Loben, lachen, stärker loben! In Jeans und Seemannspulli steht er vor dem Lehrerpult, wippt den Takt mit.

Für die Beschwer-Berliner ist so eine Probe Schwerstarbeit. Darum ist hier Ermunterung gefragt, die Leute „sollen einfach singen, auch wenn es mal falsch ist“, sagt Markowitsch. Aber braucht die Jammerrunde überhaupt Ermunterung? Die Stimmung ist großartig, es wird viel gelacht. Lust, Laune und Gemeinschaftssinn sind der Motor des Unternehmens, fünf Frauen kommen hier auf einen Mann. Ansonsten alles schön gemischt: Bügelhemd neben Impro-Theater-Shirt, Rentnerinnen neben Studentinnen – mit leichtem Überhang ins Akademische.

Was plagt sie, die guten Menschen von Berlin? Unterscheiden lassen sich im Abgleich mit den Chorklagen anderer Beschwerdechöre, wie man sie leicht im Internet findet, zwei Formen des menschlichen Elends. Erstens ist da das allgemein anthropologische Leid: „Notgeilheit und Samenstau“, wie es im Berliner Lied heißt, sind weltweit beklagenswert. Zweitens gilt es konkrete Missstände zu benennen, immer schön durchrhythmisiert. In Berlin ist das vor allem die soziale Auskühlung: „Die Wohnung kann keiner mehr bezahlen!“ Oder konkreter: „Der Schwestern-Burnout ist des Vorstands Freude / Bei Vivantes wird zufrieden gelacht / Nur drei Pflegekräfte pro Gebäude!“

Für sich genommen, erscheinen viele Liedsätze wie Zeitungsschlagzeilen. Als Poem aufeinandergeschichtet, wirken sie kritisch und selbstironisch zugleich.

Der Neuköllner Lyriker Tom Schulz, der mit Birgit Kreipe, Björn Kuhligk und Florian Voß die Beschwerden in Strophenform bracht, erklärt, die Möglichkeit der Satire sei im Material angelegt. Die vielen Dutzend Klagen, die per E–Mail und Facebook eingereicht wurden, erzählten „ihre ganz eigene Geschichte“ von Berlin: „Die Verrohung der Sitten im öffentlichen Raum, die Kommerzialisierung der Stadt, das beschäftigt die Leute.“

Unterstützt werden die Klagenden von geübten Stimmen, vom Jugendmusikverein „Junges Ensemble Berlin“. Die fallen beim Probentermin kaum auf, weil im Saal die Kuscheltemperatur gemeinsamen Ausprobierens herrscht. Ein solcher Freiwilligen-Chor funktioniert wie eine Wärmestube gegen soziale Kälte: Hier schämt sich niemand für seine Stimme. Ein Modephänomen: Seit einiger Zeit ist der Chor auch im Gegenwartstheater wieder präsent, man denke nur an Volker Löschs umstrittene Inszenierungen. Auch in einer einer zersplitternden Gesellschaft lassen sich Kollektive bilden.

Also: Parole Nörgeln! Bildet Chöre! Wenn die Politik von Bürgerbeteiligung spricht, bilden Beschwerdechöre das gewitzte Gegenprogramm von unten. Frank Markowitsch und seine Grantler jubeln weiter, und für einen kurzen Moment möchte der Zuhörer Berlin für seinen Bioplunder, die fehlende Arbeit und sogar die Hundehaufen loben. Aber wirklich nur für einen Moment.

Der Beschwerdechor tritt am Sonnabend, 17. 9., um 19.15 Uhr beim Open-AirLyrikfest „Dichter dran“ in der Kulturbrauerei auf (Schönhauser Allee 36, Prenzlauer Berg), anlässlich des Jubiläums der Literaturwerkstatt (siehe S. 25).

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