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Kultur: Ausgerechnet wir paar Hanseln Thomas Rosenlöcher über die Dresdner Wahl

Fünfzehn Jahre her, dass wir Elbtaldresdner auch mal was zu sagen hatten. Wir sind das Volk, sagten wir, eine nicht sonderlich umwerfende Bemerkung – aber die Macht fiel um.

Fünfzehn Jahre her, dass wir Elbtaldresdner auch mal was zu sagen hatten. Wir sind das Volk, sagten wir, eine nicht sonderlich umwerfende Bemerkung – aber die Macht fiel um. Das Wir sind-das-Volk besagte ja auch, dass nun auch wir hier endlich etwas zu sagen haben wollten. Selbst wenn sich das zu Sagende bald darauf beschränkte, ab und an zu sagen, wer das Sagen haben soll. Wählen nennt man das. Die Auswahl für denkende Menschen begrenzt.

Erst kürzlich wurde wieder gewählt. Doch nachdem die Stimmen ausgezählt waren, hatten wir plötzlich zwei Bundeskanzler. Dabei ist doch schon ein Bundeskanzler fast zu viel für ein Volk. Wie konnte dieses Volk sich nur derartig undeutlich ausdrücken. Doch halt, eine Ausnahme gibt es doch. Uns hier unten nämlich. Aus absolut unerklärlichen, mystisch-bürokratischen Gründen dürfen wir Linkselbischen nämlich erst vierzehn Tage später sagen, wer dieses Mal von denen, die auch nicht viel zu sagen haben, das Sagen haben soll. Nicht nur die Rechtselbischen, nein, ganz Europa schaut plötzlich auf uns. Ausgerechnet wir paar Hanseln sollen es nun wieder richten, das von den anderen angerichtete Bundeskanzlerdurcheinander. Dabei hat uns auch hier unten erst kürzlich eines dieser bayerischen Bleichgesichter als frustriert bezeichnet (auch so ein Westwort, muss mal nachschlagen, was das eigentlich heißt). Und ein nordischer General hat uns zu tendenziellen Kindermördern erklärt. Allerdings werden die wirklichen Fragen, die unsere Kinder wirklich angehen, bei solchen Wahlen gar nicht gestellt, so dass wir am Ende womöglich tatsächlich die tendenziellen Mörder unserer Kinder sind.

Gleichwohl: Was sagen ist besser als nichts – auch bei stark begrenzter Auswahl. – Auch wenn der eine Bundeskanzler trotz seiner Ostherkunft unser uraltes 11.Gebot vergaß: Du sollst nicht Karriere machen. – Auch wenn der zweite Bundeskanzler dem Bundesadler neuerdings immer ähnlicher wird. Ach, von den Bildschirmen her kennen wir unterdessen die Falten der uns Regierenden besser als die unserer Schwiegermütter! Wähle trotzdem den... na, Ihr wisst schon. Vielleicht schafft er ja doch etwas weniger von dem ab, wofür ausgerechnet die, mit denen wir jetzt ein Volk zu sein versuchen, vor Jahrzehnten auch für uns auf die Straße gingen. – An die Wahlurnen, Elbwiesenindianer!

Thomas Rosenlöcher, 1947 in Dresden geboren, lebt dortselbst. Bei Suhrkamp ist 1990 sein Wendetagebuch „Die verkauften Pflastersteine“ erschienen, 1997 sein „Ostgezeter“. Zuletzt hat er im Insel Verlag den Erzählband „Wie ich in Ludwig Richters Brautzug verschwand“ veröffentlicht.

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