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Kultur: Aussaat und Ernte

SCHREIBWAREN Jörg Plath über den Autakt einer vielversprechenden Buchsaison Die Fruchtbarkeit der Tropen besitzt der hiesige Buchhandel: Mit zwei Ernten pro Jahr ist er der hiesigen Landwirtschaft weit überlegen. Im Frühjahr und im Herbst, jeweils zu den Messen in Leipzig und Frankfurt am Main, werden die neuesten Lesefrüchte ausgeliefert.

SCHREIBWAREN

Jörg Plath über den Autakt einer vielversprechenden Buchsaison

Die Fruchtbarkeit der Tropen besitzt der hiesige Buchhandel: Mit zwei Ernten pro Jahr ist er der hiesigen Landwirtschaft weit überlegen. Im Frühjahr und im Herbst, jeweils zu den Messen in Leipzig und Frankfurt am Main, werden die neuesten Lesefrüchte ausgeliefert. Jetzt ist es wieder soweit, und diese Woche widmet sich bis auf eine Ausnahme dem Allerneuesten. Dass der Buchhandel die Landwirtschaft auch in puncto Mindesthaltbarkeitsdatum um Längen schlägt, wissen Sie ja sicher – ebenso, dass er davon meist nichts wissen will und seine Produkte viel zu schnell verramscht.

Aus Berliner Landen frisch auf den Tisch heißt es am Donnerstag, 27.2., im Literarischen Colloquium . Zum „Saisonauftakt" um 20 Uhr haben sie am Wannsee einen FrauenSechser gebildet. Die Debütantin Christina Griebel präsentiert Erzählungen von sanftem Unglück „Wenn es regnet, dann regnet es gleich immer auf den Kopf“, (Fischer Collection), Tanja Dückers von einem „Himmelskörper“ (Aufbau) und aus Königsberg Vertriebenen, Kerstin Hensel von einem „Spinnwebhaus“ (Luchterhand) voller Frauen, die mit 60 schwanger werden, Judith Kuckart von Witwen des Glücks samt einer „Autorenwitwe“ (DuMont), Emine Sevgi Özdamar von den Siebzigerjahren in einer West-Kommune („Seltsame Sterne starren zur Erde", Kiepenheuer & Witsch), und Susanne Riedel weiß, es gibt „Eine Frau aus Amerika“ (Berlin).

Von Landwirtschaft und Buchhandel ist die Literatur im Netz wohl gleichweit entfernt. Die Literaturwerkstatt stellt ebenfalls am Donnerstag drei Beiträge des von dtv und T-Online ausgerichteten Wettbewerbs für digitale Literatur 2002 vor: einen multimedialen Hypertext, einen kollaborativen Netzkrimi und einen Textautomaten, worüber sich um 20 Uhr Tobias Freudenreich , Florian Thalhofer und Roberto Simanowski unterhalten – keine Autoren, sondern Designer, Medienkünstler und Medienwissenschaftler.

Am selben Abend liest Peter Weber im Buchhändlerkeller (21 Uhr) aus seiner „Bahnhofsprosa“ (Suhrkamp), die die Stimmen vieler Reisender unter der großen Kuppel einfängt, sie zu sechs Geschichten bündelt, überkreuzt und wieder auseinander fallen lässt in blitzenden, funkelnden Splittern. Ein Prosamikado, gespielt auf einem Kreuzungspunkt von Menschen, Waren und Sehnsüchten. Im Ethnologischen Museum macht der Kanadier Yann Martel am Freitag, 28.2., mit dem Wort „Bamboozle“ bekannt, das Sie in keinem Wörterbuch finden werden. Der Kanadier liest aus dem Roman „Schiffbruch mit Tiger“ (S. Fischer), für den er im Herbst den Booker Prize bekamt: Nach einem Schiffbruch findet sich ein junger Mann auf einem Rettungsboot wieder, gemeinsam mit einer Hyäne, einem Orang Utan, einem Zebra und einem Tiger. Die Fauna verringert sich sehr bald. Martel liest englisch, und wenn er von „Bamboozle“ erzählt, mit schönem indischem Akzent. Die deutsche Übersetzung trägt Ilja Richter vor.

Tanja Dückers hat sich am Samstag, 1.3., vom „Saisonauftakt“ wieder erholt und widmet sich allein im Roten Salon der Volksbühne (21 Uhr) ihrem „Himmelskörper“. Im Zentrum des Romans steht die Vertreibung aus Königsberg und die Flucht im Minensuchboot (nicht in der „Wilhelm Gustloff“). Der Historiker Norbert Frei vermutet, dass die anschwellende Konjunktur der Erzählungen von den deutschen Weltkriegsopfern – auf Anhieb fallen mir W. G. Sebald, Günter Grass, Jörg Bernig und Reinhard Jirgl ein – eine Folge des nahenden Todes vieler Zeitzeugen ist. Tatsächlich ist „Himmelskörper“ eine Familiengeschichte mit drei Generationen.

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