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Demonstrieren für sozialen Frieden und ein besser Zukunft.

© dpa

Ausschreitungen in London: England ist heute ein zersplitterter, postmoderner Raum

Wie ich die Ausschreitungen in London erlebte und warum sie jederzeit wieder beginnen können. Der Autor der Romane "Lost Boys" und "Sunshine State" James Miller berichtet von den Unruhen in London.

Wie sind wir so weit gekommen? In den letzten 30 Jahren hat sich die britische Wirtschaft transformiert, Industrie wurde zugunsten von Finanzdienstleistungen abgebaut. Dies fiel zusammen mit einem Machttransfer von der Working Class hin zu einer Elite, die das gegenwärtige Kabinett repräsentiert: privat beschulte, oxfordstudierte Millionäre, Söhne von Aristokraten und Bankiers.

Es gab eine systematische Entmündigung des Arbeiters, der nun gern als prolliger „Chav“ verspottet wird – und eine Verarmung des politischen Bewusstseins in allen Bereichen der Gesellschaft. Die Kluft zwischen Arm und Reich war niemals größer. In den von den Ausschreitungen betroffenen Bezirken Hackney, Haringey und Lambeth stehen Häuser mit Millionenwert neben Elendswohnungen. Die Menschen wohnen in derselben Straße, sie nehmen denselben Bus – aber sie führen völlig unterschiedliche Leben.

England ist heute ein zersplitterter, postmoderner Raum, eine Gesellschaft des Spektakels. Wie viele Londoner habe ich die Aufstände über Twitter, Facebook und Live-TV verfolgt und nervös zwischen den Medien hin- und hergewechselt. Ich lebe in Stockwell, einem benachteiligten, gespaltenen, multiethnischen Bezirk im Süden. Im Fernsehen sah ich, wie das drei Kilometer entfernte Clapham zum Kriegsgebiet wurde. Am Abend zuvor war das noch viel näher gelegene Brixton geplündert worden. Es schien, als ob die Unruhen überall ausbrechen konnten, als hätte die Polizei für ein paar Stunden die Kontrolle über die Hauptstadt verloren.

Die Taktik der Aufständischen war einfach: Ein Treffpunkt wurde über Blackberry-Messenger ausgemacht, dann strömten die Jugendlichen in die jeweilige Gegend, plünderten und zerstreuten sich, sobald die Polizei anrückte. Es lohnt sich, eine der Nachrichten zu lesen: „Bare shops are gonna get smashed up. So come, get some (free stuff!!!!) Fuck the feds we will send them back with OUR riot! Dead the ends and colour war for now. So If you see a brother ... SALUTE! If you see a fed ... SHOOT!" Auf Deutsch etwa: „Ungeschützte Läden werden zerschlagen. Also kommt, holt euch was (Gratis-Zeug!!!!). Scheiß auf die Bullen, wir schlagen sie mit UNSEREM Aufstand zurück! Stoppt den Viertel- und Farbenkrieg fürs Erste. Wenn Du einen Bruder siehst … GRÜSS! Wenn Du einen Bullen siehst … SCHIESS!"

Lesen Sie auf Seite zwei, welche Erfahrungen junge schwarze Männer mit der Polizei machen.

Die Botschaft signalisiert zugleich Krieg und Frieden. Sie erklärt den Krieg um Gangfarben jenseits von Hautfarben, den lokale Trupps um Territorien führen, für beendet. Ziel der Allianz sind Vandalismus, Plünderungen und der gemeinsame Kampf gegen die Polizei. Die Feindseligkeit ist schockierend, nicht zuletzt wegen des alle Aktionen lässig glorifizierenden Tonfalls: Der Slang scheint direkt der US-Serie „The Wire“ aus den schwarzen Bezirken von Baltimore abgelauscht. Die Erfahrungen vieler Jugendlicher widersprechen der verbreiteten Rhetorik über die Nachsicht der Behörden. Mark Duggan ist der letzte Tote in einer Reihe umstrittener Todesfälle in Polizeigewahrsam.

Rein statistisch ist es heute 26-mal wahrscheinlicher, dass ein junger schwarzer Mann angehalten und durchsucht wird, als einer seiner weißen Altersgenossen. Es ist typisch, wie ein befreundeter Sozialarbeiter das Leben dieser Kids beschreibt: „Ihre Erfahrungen sind oft die gleichen: Ständig werden sie angehalten. Wenn sie keine Informationen für die Beamten haben, werden sie oft in einem anderen Viertel abgesetzt, im Revier rivalisierender Gangs, ohne Telefon, kilometerweit von zu Hause entfernt.“

Sogar Mittelschicht-Kids wurden während der Studentenproteste im vergangenen Jahr eingekesselt, von berittenen Beamten angegriffen und mit Schlagstöcken traktiert. Vielen stehen nun drakonische Strafen für kleine Ordnungswidrigkeiten bevor – und dies sind die Leute, die Anteil nehmen an der Gesellschaft.

Anders als diese Proteste fallen die aktuellen Ausschreitungen zusammen mit einem hemmungslosen Konsumismus. Geschäfte werden geplündert, um Turnschuhe und Flachbildschirme zu stehlen, Marken zählen mehr als politisches Bewusstsein. Die Plünderungen sind eine karnevaleske Entladung von Konsumbegierden, von denen, die sie sonst nicht ausleben können. Dabei passen nicht alle der Festgenommenen zum Klischee der „wilden Jugend“. Unter ihnen befinden sich eine Ballerina, ein Unidozent und ein Makler. Diese Vielfalt zeigt die Attraktivität des Chaos, die opportunistische Natur des Konsumismus: Wie viele Plünderungen waren nur eine perverse Form des Impulskaufs? Abgesehen von Masken und Kapuzen haben mich einige Szenen an die Massen erinnert, die Ikea und Harrods zum Sommerschlussverkauf stürmen: die gleiche Mischung aus Hysterie, Aggression und Unterhaltung.

Die Plünderer schienen ein gemeinsames Ziel zu entwickeln, während sie vorübergehend die Räume dominierten, von denen sie sonst ausgeschlossen sind: dem virtuellen Raum der Medien, des Parlaments, der Shopping-Malls und den kommunalen Raum der Straße. Von dort wurden sie wieder vertrieben. Aber irgendwann wollen sie wieder dahin zurück.

James Miller, 1976 geboren, lehrt an der Londoner Kingston University Creative Writing und englische Literatur. Beim Verlag Little, Brown hat er die Romane „Lost Boys“ und „Sunshine State“ veröffentlicht. Seinen Originalbeitrag hat Jan Oberländer aus dem Englischen übersetzt.

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