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Kultur: Aussteigen erlaubt

Das Doku-Stück „Westflug“ macht den Flughafen Tempelhof zu einer existenziellen Zwischenstation

Frank ist DDR-Bürger, Fagottist und ziemlich unentschlossen. „Ich wünschte, das Leben wäre eine Orchesterprobe“, sagt er, „da könnte man einfach vier Takte zurückgehen und noch mal von vorn anfangen.“ Das Leben aber ist, leider, kein Wunschkonzert. Da wollen Entscheidungen getroffen und Konsequenzen getragen werden. Schwierig. Besonders, wenn man gerade unfreiwillig Republikflucht begangen hat.

Die Linienmaschine, mit der Frank und seine Frau Kathrin in Danzig gestartet sind, ist nicht wie vorgesehen in Berlin-Schönefeld gelandet, sondern von einem Passagier mit vorgehaltener Spielzeugpistole auf den Zentralflughafen Tempelhof umgeleitet worden. Plötzlich steht das ganze Flugzeug vor der Frage: Verbleib in Berlin (West)? Oder doch lieber heim nach Cottbus?

Diese Geschichte ist im August 1978 tatsächlich passiert. Schon 2004 hatte die Berliner Autorin Antje Rávic Strubel den Fall in ihrem Roman „Tupolew 134“ verarbeitet, nun gibt es auch ein Stück zum Stoff. Für die Sophiensäle lässt Regisseur Tobias Rausch, Mitglied der Theatergruppe Lunatiks (www.lunatiks.de), den „Westflug“ am Originalschauplatz landen, in fiktionalisierter Form und mit klarem Fokus auf die Passagiere und ihren „Schwebezustand“ zwischen zwei Welten. Der Entführer interessiert Rausch und seine Schauspieler dabei nur als Auslöser dieser Versuchsanordnung (übrigens verurteilte ihn die amerikanische Militärverwaltung zu neun Monaten, praktischerweise genau die Zeitspanne, die er bei bester Verpflegung auf dem Flughafengelände in U-Haft zugebracht hatte).

Der Einstieg ins Stück ist sehr charmant: In der Haupthalle des Flughafens Tempelhof ist ein Ticketschalter und eine Passausgabe aufgebaut, man bekommt einen persönlichen DDR-Personalausweis, der auch als Programmheft dient. Beim Check-in wird jeder Besucher einzeln aufgerufen. Dann geht es abwärts. Im Fahrstuhl steht ein Steward und spult mit seinem CD-Player die Zeit zurück: WM 2006, der 11. September, Mauerfall, schließlich 1978, das Flugzeugentführungsjahr. Draußen, im dritten Untergeschoss, steht ein Bus bereit. Die Fahrt zur „Deutschen Kantine“ des Flughafens dauert drei Minuten. In der Vitrine des Kantinenvorraums liegen Marlboros, Kaugummi und Bananen: Willkommen im Westen.

Und dann geht es los, in demselben Raum, wo damals die echten 50 gestrandeten DDR-Bürger bei Fritten und Cola ziemlich hart nachdenken mussten: Müssen wir oder können wir jetzt zurück? Und vor allem: Wollen wir überhaupt?

Da sind Grit (Antje Widdra) und ihre Chefin Gerda (Franziska Kleinert), die gerade vom Besuch beim polnischen Bruderkombinat zurückkommen. Da ist der Hobby-Imker Max (Matthias Scherwenikas), dessen Bruder Tommy vor Jahren rübergemacht hat, darum weiß Max sofort, dass er bleiben wird: Er ist jung, er hat nichts zu verlieren, seinen Studienplatz ist er sowieso los.

Wie soll man sich entscheiden, wenn die richtigen Informationen fehlen? „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“, sagt Gerda. Was zur Kantine passt, die ein ziemlich glänzendes Bild westlicher Konsumoberflächen bietet: der lebensgroße Papp-Elvis in Army-Uniform (Ausstattung: Jelka Plate), das dicke Motorrad, die bunten Leuchtreklamen in den Fenstern, die eine weite Sicht aufs Rollfeld zulassen.

Trotzdem: Man braucht Träume. Wie Frank (Jan Uplegger), der sein Musikerleben im Suhler Stadtorchester „bedeutungslos“ findet und nach Höherem strebt. Doch ist es wirklich „Schiebung“, dass er nicht mit den Ostberliner Symphonikern auf Auslandstournee kann, oder reicht sein Talent nicht zu mehr? Und will er wirklich Kathrin (Christine Rollar) verlassen, die mit ihrem Job als Lehrerin zufrieden ist? Schwierig. Ist Abhauen, wie Kathrin sagt, immer die einfachste Lösung?

Das sind die Fragen, auch für das Publikum. Der lange, schlauchförmige Raum, an dessen Längsseite man dreireihig sitzt, schluckt ein bisschen die Spielintensität, zudem ist es sehr heiß, die Wasserpause nach einer Stunde ist eine gute Idee. Die Darsteller aber sind trotz der Hitze spitze, das Stück dynamisch und witzig. Bisweilen fallen große Sätze übers Sich-Entscheiden, die ein bisschen sehr merksatzhaft ins Allgemeine tendieren: In Entscheidungssituationen gebe es strukturell zu wenig Zeit, die Überforderung könne zu Lähmung oder Kurzschlusshandlung führen. Oder dazu, dass wir jemand anders entscheiden lassen.

Vielfältig gestellt ist sie jedenfalls in „Westflug“, die Frage nach „den anderen möglichen Leben“. Damals, 1978, blieben acht Reisende in Westberlin, eine junge Frau wurde später von ihrem Vater zurück in die DDR geholt. Die restlichen Passagiere fuhren mit einem BVG-Bus zum Flughafen Schönefeld, mit einem kleinen Umweg über den Kurfürstendamm. Das Angebot stand: „Sie dürfen jederzeit aussteigen.“

Wieder am 22., 23. und 25. bis 30. Juli

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