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Ausstellung: Berlins vergessene Mitte: Des Trubels Kern

Altstadt und Abriss: Im Ephraim-Palais erzählen 380 Fotografien die Geschichte der Mitte-Quartiere. Berlins historische Wiege ist eine weltweit einzigartige Tabula rasa, mental und real.

Ein bisschen schizophren waren die Berliner schon immer. Fast zwei Millionen Besucher strömten im Sommer 1896 in die Berliner Gewerbeausstellung nach Treptow. Auf 30 000 Quadratmetern konnten sie „Alt-Berlin“ bewundern, 120 Gebäude inklusive Stadttor, Rathaus, Straßen und Plätzen: Berlin anno 1650, eine nostalgische Simulation just zu dem Zeitpunkt, als man die reale Altstadt Straßenzug um Straßenzug begradigte, verkehrsbeschleunigte und abriss.

Getreu dem Verdikt des Stadtsoziologen Harald Bodenschatz, dass Berlins Altstadt nicht nur verschwunden, sondern vergessen ist, präsentiert die Ausstellung der Stiftung Stadtmuseum und des Landesarchivs unter dem Titel „Berlins vergessene Mitte. Stadtkern 1840 –2010“ ab morgen rund 380 Originalfotos zumeist des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dazu Pläne, Architekturspolien, Fundstücke. Mit „Alt-Berlin“ bietet der Historiker und Kurator Benedikt Goebel einen aufschlussreichen Exkurs; ansonsten widmet man sich dem historischen Stadtkern von gut einem Kilometer Durchmesser zwischen dem Stadtbahnviadukt, wo einst die Stadtmauer stand, und dem Kupfergraben.

Es geht nicht um die Barockstadt, um Gendarmenmarkt oder Unter den Linden. Auch das Schloss spielt nur eine Nebenrolle. Es geht um die Siedlungskerne der Doppelstadt Berlin-Cölln, um Stadtquartiere mittelalterlichen Ursprungs rund um die Kirchen St. Marien, St. Nikolai, St. Petri. Letztere, kriegszerstört und in den Sechzigern abgerissen, bildete 700 Jahre lang das sakrale Zentrum Alt-Cöllns. Die Fundamente der im 19. Jahrhundert erneuerten Kirche wurden von Archäologen freigelegt, ein Freundeskreis kämpft für ein neues Gotteshaus. Nur: Wie viele Berliner wissen überhaupt, wo sie stand?

Berlins historische Wiege ist eine weltweit einzigartige Tabula rasa, mental und real. Von 1500 Gebäuden, die dort um 1840 standen, wurden 1488 bis 1970 abgerissen oder zerstört. Lebhaft nachvollziehen kann das, wer nach dem Ausstellungsbesuch die achtspurige Rennstrecke überquert, die zwischen Spittelmarkt und Alexanderplatz zwar alle 200 Meter einen anderen historischen Straßennamen aufruft, für deren schrittweisen Ausbau jedoch ganze Viertel fallen mussten.

Schon die älteste bekannte Berlin-Fotografie, eine um 1840 entstandene Aufnahme des alten Rathausturms, symbolisiert Geschichtsverlust. Da Friedrich Wilhelm IV. als Kronprinz mit seiner Kutsche am Turmschaft angeeckt war, ließen die Stadtväter in seinem Krönungsjahr den Turm abreißen. Ein paar Jahre stand dort Berlins erste Litfaßsäule, bis 1871 wurde das im Kern gotische Rathaus ganz demoliert. Der Streit darüber, ob wenigstens die verwahrloste, als „Geruchslaube“ diffamierte mittelalterliche Gerichtslaube bleiben dürfe, entzweite Ministerialbeamte und Kulturbürger mit den im Magistrat dominierenden Fortschrittsfreunden.

Die Berliner mochten – man fühlt sich an heutige Aversionen erinnert – ihre Altstadt bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr. Damals litt man darunter, dass das Gewirr von Straßen und Gassen im Rücken des Schlosses den Ansprüchen einer expandierenden Metropole nicht mehr genügte. Abriss und Neubau, Parzellenzusammenlegungen, Großbauten von Verwaltung und Kommerz waren die Folge. Bereits 1868 hatte der Magistratsmitarbeiter Ernst Bruch nach Verkehrszählungen einen Masterplan vorgelegt, der in der Altstadt 103 Straßendurchbrüche und 13 neue Brücken empfahl. Ein Albtraum, der Geschichtsvergessenheit und Brachialplanungen der 1920er und 1930er Jahre vorwegzunehmen scheint. Der den Stadtgrundriss negierende sozialistische Aufbau nach 1949 vollendete die Beseitigung der Altstadt. Rund zwei Drittel ihrer Flächen waren bereits 1949, nicht zuletzt bedingt durch Arisierungen von jüdischem Grundbesitz, in öffentlicher Hand und damit für die Planer verfügbar.

Harald Bodenschatz und Benedikt Goebel formulieren es im vorzüglichen Katalog so: „Nicht Krieg und Sozialismus, sondern Altstadtfeindlichkeit und Verkehrswahn der Stadtväter und Stadtplaner zwischen 1840 und 1975 haben zum heutigen Zustand des einstigen Stadtkerns geführt.“ Gefühle des Verlusts entwickelten sich schon früh. Ihnen sind die großartigen Fotos von F. Albert Schwarz, Leopold Ahrendts, Georg Bartels und Hermann Rückwardt zu verdanken, die den gründerzeitlichen Abriss der Altstadt dokumentieren. Ihnen geschuldet ist eine Planung von 1935, rund um die Nikolaikirche eine Art Freilichtmuseum andernorts abgerissener Barockfassaden zu errichten; Sehnsucht nach Verlorenem ermöglichte auch die radikale Umkehr des späten DDRStädtebaus bis zum Nikolaiviertel.

Sehnsüchte treiben auch die Planer der letzten 20 Jahre um, die im Ephraim-Palais bis zum aktuellen Kartenausschnitt des Planwerks Innenstadt vorgestellt werden. Die Ausstellung liefert eine Fülle von Material über das, was tatsächlich unter dem Berliner Pflaster liegt – als Grundlage für jede künftige Bebauung. Denn wenn erst die Bagger kommen, ist es zu spät.

21. Oktober - 27. März. Katalog 29,90 €. Infos zum Begleitprogramm: www.stadtmuseum.de.

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