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Ausstellung: Die heilige Muttergottes der Kaugummikauer

Seine Kunst hat die Ernsthaftigkeit eines naturwissenschaftlichen Experiments. Kühle, präzise Abstraktion: Der Schweizer Maler Albrecht Schnider im Berliner Haus am Waldsee.

Seine Kunst sei nichts anderes als Malen nach Zahlen. Das könne jeder, sagt Albrecht Schnider, Flächen mit Farbe ausfüllen. Mag sein. Aber jedes seiner Werke, die das Berliner Haus am Waldsee gerade in einer Einzelschau zeigt, ist sein ureigenstes Werk. Nach einem Arbeitstag, wenn Schnider schon müde ist, setzt er sich noch einmal an den Tisch und zeichnet aufs Geradewohl das, was auf’s Papier will. Die Hand hat kein Ziel. So produziert er Skizzen en masse, prüft, schmeißt das meiste weg. Nur weniges bannt seinen Blick und dient ihm dann als Vorlage für seine Malerei. Er pickt sich Ausschnitte heraus, entdeckt in den abstrakten Formen Landschaften, ist fasziniert von der räumlichen Dimension einer geometrischen Form.

Den Titel der Ausstellung „Am Ereignishorizont“ hat sich der Schweizer Künstler selbst ausgesucht. Er stammt aus der Allgemeinen Relativitätstheorie. Schnider befasst sich viel mit Naturwissenschaften und Erkenntnistheorien. Beim Skizzieren versucht er nicht zu denken. Die Frage ist dann: Was steuert die Bewegungen? Schnider schaut nicht in sich hinein, er schaut, was aus ihm herauskommt. Ähnlich wie das bereits die Surrealisten mit ihrer „écriture automatique“ versuchten. Es ist eine Annäherung an das, was man Unterbewusstsein nennt. An die Wahrheit. Schnider testet jedoch nicht nur sich, sondern auch seine Betrachter.

Ein Porträt! Eine Landschaft! Ist doch ganz klar, mag man vor manchem Bild denken. Doch woran macht man solch ein schnelles Urteil fest? Schließlich bietet der Maler nicht viel: Akkurate, monochrome Flächen, die so aussehen könnten wie ein Rumpf. Doch dort, wo das Gesicht sitzen sollte, klafft eine weiße Leere. Oder, wie viel braucht es, um eine Landschaft zu formen? Es scheint, dass es reicht, Farbfelder in ihrer Helligkeit abzustufen, damit sich Perspektiven ergeben, Berge und Täler. In den Landschaftsbildern, den gegenständlichsten Motiven von allen bei Schnider, findet der Künstler automatisch zu einer ganz altmeisterlichen Betrachtung über das Genre, über Licht und Schatten.

Gleichzeitig hat Schniders Kunst die Ernsthaftigkeit eines naturwissenschaftlichen Experiments. Früher hätte er seine Skizzenbücher nie offengelegt, hätte sich nicht in die Karten schauen lassen. Im Haus am Waldsee tut er das und schafft so den ein oder anderen beglückenden Moment für den Besucher, der nur so einen Fuß in den Kosmos dieser kühlen, präzisen Abstraktion kriegt.

Schnider wurde 1958 in Luzern geboren, er studierte an der Schule für Gestaltung in Bern. Er geht unbeirrbar seinen künstlerischen Weg, frei von Moden. Seine Kunst erinnert an die Konkrete Malerei, die seit den dreißiger Jahren in der Zürcher Schule der Konkreten ihre Anhänger fand. In Berlin, wo er seit den Neunzigern lebt und von der Galerie Thomas Schulte betreut wird, hat er nun seine erste eigene institutionelle Ausstellung erhalten. In der Schweiz ist Schnider ein bekannter Künstler, sein Werk wird immer wieder in Museen ausgestellt, zuletzt im Kunstmuseum Solothurn.

Ganz schön komisch kann das Irrationale sein, das zeigen vor allem seine Objekte. Die meisten entstanden spontan, weil Dinge in seinem Atelier sich wie Skulpturen zusammenfanden, Pinsel in eingetrockneten Farbtöpfen, Holzklötzchen, Drähte. Auf einem weißen Eimer steht ein weißer Terrinendeckel, bekrönt von einem weißen Kaugummi. Den musste Schnider, so heißt es, eines Tages, als das Telefon klingelte, aus dem Mund nehmen. Das Gespräch war beendet, da betrachtete er die längliche, gehärtete Form des Kaugummis. Er entdeckte in ihm eine winzige Marienfigur. Zufälle gibt’s.

Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 19. Juni, Di–So 11–18 Uhr.

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