zum Hauptinhalt
Der Pietist. August Hermann Francke

© Falk Wenzel

Ausstellung: "Man muss etwas rechtes stifften"

Der Sozialreformer August Hermann Francke, vor 350 Jahren geboren, lebte für die Armen. Erst baute er ein Waisenhaus, dann Schulen. In Halle ist sein Lebenswerk zu bestaunen.

Zuallererst muss man hinauf zum Altan, der Aussichtsplattform auf dem historischen Waisenhaus. Denn dann liegt es einem zu Füßen, das faszinierende Lebenswerk des August Hermann Francke. 50, meist weiße Gebäude, bildeten die Schulstadt, die der Pfarrer mit der Grundsteinlegung des Waisenhauses 1698 peu à peu bauen ließ. Sechs Jahre zuvor hatte der überzeugte Pietist und Theologe sein Amt als Seelsorger der kleinen Gemeinde Glaucha, heute ein Ortsteil von Halle, übernommen.

Was der damals 29-Jährige dort sah, entsetzte ihn. Soviel Elend, Hunger und Verwahrlosung. 200 Häuser gab es in Glaucha, 37 davon waren Gast- und Schankwirtschaften. Was sollte aus den Kindern werden, die mittendrin, in Lumpen gekleidet, in Dreck und Unrat spielten? Eine Spende von vier Thalern und sechzehn Groschen, die Francke in der im Pfarrhaus aufgestellten Armenbüchse fand, bringt ihn auf die Idee: „Das ist ein ehrlich Capital, davon muss man was rechts stifften, ich will eine Armen-Schule damit anfangen.“

Zunächst unterrichtet er mittellose Kinder im Pfarrhaus. Ihre guten Lernergebnisse sprechen sich schnell herum. Auch wohlhabende Eltern schicken ihren Nachwuchs zum – für sie allerdings kostenpflichtigen – Unterricht. Ein Pädagogium für die Söhne der „höheren Stände“ entsteht, bald auch die erste Mädchenschule. Und eben das dreigeschossige Waisenhaus mit ausgebautem Dach, groß und stilvoll wie ein Schloss. Ob der Pracht erbost, schimpfen manche Bürger, er baue „Paläste für des gemeinen Mannes Kind“.

Das Waisenhaus, Keimzelle von Franckes Kosmos.
Das Waisenhaus, Keimzelle von Franckes Kosmos.

© Falk Wenzel

Francke steht zu seinem Bau und erklärt: „Denn viele Gemächer hat das Haus haben müssen, weil nicht alleine die Waysen-Kinder darinnen logiret, in unterschiedlichen Classen unterrichtet, gespeiset und zur Arbeit anführet, sondern auch die übrigen Schulen darinnen gehalten (...), der Buchladen, Druckerey und Apotheke, nebst denen dazugehörigen Leuten und Provision hinein gethan ...“ Im April 1713 kommt Friedrich Wilhelm I. , der Soldatenkönig, zu Besuch – und ist beeindruckt. „Wieviel kostet das Gebäu wohl?“, will Majestät wissen. „40 000 Thaler sind bisher verbaut“, antwortet Francke. „Woher ist das alles kommen?“ – „Das ist alles so nach und nach zusammengekommen. Ich habe mannichmal noch nicht das Geld gehabt zur Stunde des Auszahlens. Dann versteckte ich mich“, sagt der Bauherr.

Er führt den König über das Gelände, und der Protokollführer im Gefolge kommt kaum nach, all die Fragen und Antworten zu notieren. „Was wird aus der Jugend?“, fragt Friedrich Wilhelm I. „Welche gute Köpfe, studieren, die übrigen lernen rechnen, schreiben und werden auf das Handwerk gethan“, teilt Francke mit. So wie einst der König, möchte sich auch der heutige Besucher Stunden in dem Areal, nun die Franckeschen Stiftungen zu Halle, aufhalten.

Rund 3000 Kuriositäten befinden sich in aufwendig verzierten Vitrinen.
Rund 3000 Kuriositäten befinden sich in aufwendig verzierten Vitrinen.

© Ingo Gottlieb

Allein die Kunst- und Naturalienkammer mit ihren 3000 Kuriositäten und Artefakten aus aller Welt ist in ihrer Vielfalt kaum zu erfassen. In reich verzierten Schränken finden sich Merkwürdigkeiten wie ein tätowierter Fisch, eine Glasfaserperücke oder ein „Medinawurm“, den ein Missionar einem Mann in Indien aus dem Bein gezogen und für Studienzwecke an Francke geschickt hatte. Die Schatzkammer war nicht nur eine Sammlung zum Staunen. Ihre Objekte dienten vor allem dazu, Schülern und Studenten den Lehrstoff praktisch zu vermitteln.

Eine Ausstellung beleuchtet Franckes bahnbrechende Ideen

Eine Ausstellung beleuchtet das Lebenswerk des großen Reformers.
Eine Ausstellung beleuchtet das Lebenswerk des großen Reformers.

© Falk Wenzel

Franckes Universum wächst und wächst. Eine Buchdruckerei entsteht, ein Back- und Brauhaus, die Meierei, der „Pflantz-Garten“, ein Krankenhaus. Geschickt verwaltet der Sozialreformer Spenden, die bald nicht nur aus Deutschland, sondern aus ganz Europa kommen. Francke lenkt und leitet und kümmert sich praktisch um alles. 1702 verfasst er sogar eine detaillierte „Speiseordnung“ für seine Schützlinge und entwirft unterschiedliche Essenspläne für die Studenten einerseits und die Waisenkinder andererseits.

„Die Waisenkinder aber sollen nebst dem Fleisch absonderlich soviel Graupen abbekommen, daß sie satt werden können. Da denn an die Graupen etwas Pfeffer kommen und grüne Petersilien, klein gehacket, darüber gestreut werden kann.“ 1698 erhält er zehn Bücher als Spende. Ein Grundstock für eine Bibliothek, die binnen weniger Jahre durch Schenkungen und Vermächtnisse auf 18000 Bände anwächst. Sie bekommen ein eigenes Gebäude, in dessen Kern das barocke Kulissenmagazin noch heute erhalten ist. Die historische Sammlung, 33 000 Bände umfasst sie heute, wird hochgeschätzt und benutzt von Wissenschaftlern aus aller Welt.

Francke ist stets bemüht, sein Konzept weiter zu verbessern. Mit diplomatischem Geschick umgarnt er potenzielle Geldgeber und Gönner. Seine Schulstadt wächst beständig. In den letzten Jahren vor Franckes Tod 1727 lebten und arbeiteten etwa 2500 Menschen auf dem Areal. Nun, 350 Jahre nach seiner Geburt, haben die Franckeschen Stiftungen dem Gründer eine wunderbare Ausstellung im historischen Waisenhaus gewidmet (noch bis zum 21. Juli zu sehen). Unter dem Motto „Die Welt verändern“ beleuchtet sie klug akzentuiert Franckes bahnbrechende Ideen im Kontext seiner Zeit.

Franckes "nöthige" Schrift zu "wohlanständigen Sitten", gedruckt in Halle 1706.
Franckes "nöthige" Schrift zu "wohlanständigen Sitten", gedruckt in Halle 1706.

© Franckesche Stiftungen

Im Besucherbuch hat sich auch ein kleines Mädchen verewigt und in krakeligen Buchstaben das Wörtchen „cool“ hingeschrieben. Der stets modern denkende August Hermann Francke hätte darüber vielleicht wohlwollend geschmunzelt. Auch sein Denkmal am Ende der Lindenallee, das die Bürger von Halle ihm zum 100.Todestag aufstellen ließen, würde ihm sicher gefallen. Im langen, wallenden Gewand steht er auf einem Sockel, rechts und links neben sich ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen.

Von dort aus kann er betrachten, wie beeindruckend die Stiftung sein reiches Erbe verwaltet. Denn die Schulstadt, in deren Mitte inzwischen 32 Linden eine lichte Allee bilden, ist keine tote Museumsmeile, sondern ein quicklebendiger Ort. Mehrere Schulen befinden sich auf dem Gelände, Pädagogik-Studenten bereiten sich auf ihren künftigen Beruf vor. Ihre Mensa steht allen Besuchern offen. Dass die ein wenig mehr für die Speisen bezahlen müssen, als die Lernenden, passt zum Franckeschen Konzept. Wer mehr hat, soll mehr geben, so funktionierte sein Konzept.

Es gibt eine Kindertagesstätte auf dem Gelände, aber inzwischen auch ein „Haus der Generationen“. So werden Franckes Ideen in seinem Sinne weiterentwickelt. Zu DDR-Zeiten werden die Gebäude zwar genutzt, aber nicht mehr gepflegt. Im südöstlichsten Teil des Areals, wo sich zu Franckes Zeiten die Plantagen der Schulstadt befanden, wachsen Ende der 1970er Jahre Hochhäuser. Die Waisenhausmauer an der Nordseite wird geschleift, angrenzende zum Bestand gehörende Gebäude werden abgerissen, um einer Hochstraße Platz zu machen.

Kurz vor der Wende bietet die gesamte Schulstadt ein Bild des Jammers, der Verfall des einzigartigen Ensembles droht. Nun, schmuck restauriert und renoviert, steht das Vermächtnis des Hermann August Francke auf der Vorschlagsliste für das Unesco-Welterbe. 2016 könnte es darin aufgenommen werden. Man muss sich wenig Sorgen machen, wenn die Experten zur Visite kommen. Wie einst den Soldatenkönig haben die Franckeschen Anlagen noch jeden Besucher begeistert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false