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Ausstellung im Jüdischen Museum: Babylon in der Grenadierstraße

„Berlin Transit“: In seiner neuen Ausstellung folgt das Jüdische Museum den Spuren osteuropäischer Einwanderer der Zwanzigerjahre.

Szenen wie aus der Apokalypse. Ein brennendes Dorf, durch das Kosaken mit gezückten Säbeln reiten. Im Straßendreck liegt ein Erstochener. Von einem Dampfer werden Menschen in den Tod gestoßen. Zwei blutende Männer sind mit Seilen an einen Pfahl geflochten. Ein Baby versucht Milch aus der Brust seiner Mutter zu trinken, aber die Mutter ist eine Leiche. Die Opfer sind, zu erkennen an Kippa und Gebetslocken, Juden. Issachar Ber Ryback hat diese Aquarelle gemalt, als 1919 bei Pogromen in der heutigen Ukraine hunderttausende Juden ums Leben gekommen waren.

Sie zeigen den Schrecken in einer Form, die russische Volkskunst mit kubistischer Avantgarde verbindet. Ryback, der in Kiew mit Marc Chagall und El Lissitzky kooperiert hatte, lebte seit 1921 in Berlin. Seine schockierende Serie von Pogrom-Bildern hing 1923 in einer Ausstellung im Jüdischen Logenhaus in Schöneberg. Jetzt, fast neunzig Jahre später, sind die Aquarelle als Leihgabe aus dem Kibbuz-Museum Ein Harod in Israel nach Berlin zurückgekehrt. Sie bilden, in einem abgedunkelten Durchgang feierlich illuminiert, den Auftakt der Ausstellung „Berlin Transit“ im Jüdischen Museum.

Die Reichshauptstadt wurde nach dem Ersten Weltkrieg zum Zufluchtsort für zehntausende Juden, die der Verfolgung in den ehemaligen Gebieten des Russischen Zarenreichs und der Habsburger Monarchie entkommen wollten. Einer von ihnen war Jonas Lieber aus Galizien, der aus Schützengraben und Kriegslazarett in seine von der Oktoberrevolution erschütterte Heimat zurückkehrte. „Ich geriet in eine noch schlimmere Hölle. Kosaken fielen in unser Schtetl ein und richteten alles zugrunde. Sie plünderten die wenigen Habseligkeiten, die jeder noch hatte, und brannten fast alles nieder.“ Sein Bittbrief an den Hilfsverein russischer Juden in Berlin erscheint Buchstabe für Buchstabe auf einer Screen- Wand, so als würden sie gerade mit der Schreibmaschine getippt.

Die von Leonore Maier kuratierte, in Zusammenarbeit mit einem Forschungsprojekt der Freien Universität entstandene Schau stellt zwei Lebenswelten jüdischer Einwanderer nebeneinander: Scheunenviertel und „Charlottengrad“. Dabei wird der Blick immer wieder auf Einzelschicksale gerichtet, etwa auf die Familie des galizischen Lebkuchenbäckers David Kempler, der in der Grenadierstraße 1 eine koschere Konditorei eröffnete. Das „Krakauer Café“ war im Kellergeschoss untergebracht, angeboten wurden Frühstück und Abendtisch auf hebräischen und deutschen Schrifttafeln. Die Kinder Hillel, Ise, Fany, Miri und Gusty sind auf Fotos von Geburtstagen und Bar-Mizwa-Festen zu sehen.

Das Scheunenviertel zwischen Rosa-Luxemburg-Platz und der Alten Schönhauser Straße war schon in den zwanziger Jahren ein legendärer, mythenbeladener Ort. Hier spielen Teile von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“, Joseph Roth entdeckte Spuren seiner k.u.k. Herkunft. Aber in der Bevölkerung wurde der „Elendsbezirk“ mit Armut, Kriminalität und Prostitution gleichgesetzt. Die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten machte daraus ein „jüdisches Verbrecherzentrum“, in dem es „aufzuräumen“ gelte. Jüdische Fotoreporter wie Herbert Sonnenfeld, Walter Gircke oder Yolla Niclas, aber auch der spätere NSDAP- „Reichsbildberichterstatter“ Heinrich Hoffmann lieferten pittoreske Aufnahmen aus dem damals am dichtesten bevölkerte Berliner Stadtquartier.

Orthodoxe osteuropäische Einwanderer mit alttestamentarischen Bärten, spielende Kinder, Straßenhändler, Talmud- Schulen, Leihbibliotheken. Einige Motive gingen sogar als Postkarten in Serie. Genreszenen, hinter denen die Gewalt lauert. Polizeibilder dokumentieren Razzien gegen „lästige Ausländer“ oder das „Schieberunwesen“. Auf den späteren Fotos sitzen SA-Männer in offenen Lastwagen. Bereits im Inflationsjahr 1923 kam es im Zuge von Lebensmittelunruhen zu Gewaltausbrüchen gegen Bewohner des Scheunenviertels.

Die jüdische Kultur blühte in Berlin, doch es war eine Blüte von kurzer Dauer. Spätere Pogrome sollten staatlich gesteuert und weit schrecklicher sein. Ein „Bücherhimmel“ symbolisiert im Jüdischen Museum die zeitweilig gelingende jüdisch-deutsche Symbiose. Eine gewaltige Vitrine vereinigt Druckwerke in russischer, jiddischer, hebräischer Sprache, darunter eine „Geschichte der jüngsten russischen Revolution“, die Zeitschrift „Der Feuervogel“, El Lissitzkys „Suprematistische Erzählung von zwei Quadraten in sechs Konstruktionen“ und herrlich illustrierte Kinderbücher wie „Der kleine Alleskönner“. Um 1924 existierten rund 90 russische Verlage in Berlin, weitere 50 publizierten auf Jiddisch.

„Lieber Papa! Vorgestern waren wir in Mainz. Es war sehr nett dort. In der Altstadt gibt es Gässchen, die so eng sind, dass ein großer Mann mit ausgebreiteten Armen beide Seiten berührt.“ Das schreibt der zwölfjährige Chaim Kahan 1932 aus dem Hotel Kronprinz in Wiesbaden an seinen Vater in Berlin. Der Brief liegt neben Puppenstubenmöbeln, silbernen Chanukka-Lampen, Operngläsern, Porzellangedecken und einem Fächer aus Straußenfedern. Die Exponate verströmen den Geschmack und Reichtum der Familie Kahan, Erdöl-Unternehmern aus Aserbaidschan, die nach der Russischen Revolution nach Berlin gegangen waren. Sie lebten großbürgerlich in der Schlüterstraße, also der Gegend um den Kurfürstendamm, die wegen der zahlreichen russischen Emigranten im Volksmund auch Charlottengrad genannt wurde.

Vladimir Nabokov hat die russische Emigration als auf dem Kopf stehende soziale Pyramide mit spezifisch hohem Bildungskoeffizienten beschrieben. Nach Berlin kamen, das demonstriert die Ausstellung, einige der besten russischen Künstler, der avantgardistische Bildhauer Naum Gabo oder der impressionistische Maler Leonid O. Pasternak. Sein Sohn Boris Pasternak, der spätere Literatur-Nobelpreisträger, unterstützte die Revolution und blieb in Moskau.

Jüdisches Museum, bis 15. Juli, Mo 10–22, Di–So 10–20 Uhr. Katalog (Wallstein Verlag) 24,90 €.

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