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© Foto: AFP

Ausstellung im Postfuhramt: Meine geliebte Ersatzfamilie

Eine Begegnung mit Nan Goldin, deren sehr private Foto-Show bei C/O Berlin im Postfuhramt zu sehen ist.

Es ist nicht angenehm, im selben Raum mit zwei Personen zu sein, die sich lieben. Man fühlt sich ausgeschlossen, allenfalls gebilligt. Aber dazugehören kann man nicht, es sei denn man ist, wie Nan Goldin, irgendwie Teil dieser Liebe. Wie sie das schafft, dass ihr Menschen gestatten, bei intimsten Momenten dabei zu sein und sogar Fotos zu machen, wenn sie sich ausziehen, sich küssen und streiten, miteinander schlafen oder Gedanken nachhängen, ist ein Rätsel. Dabei gibt es gar kein Geheimnis, sagt Nan Goldin.

Die 56-jährige Amerikanerin hat die Dokumentarfotografie revolutioniert mit ihrer extremen Subjektivität. Genügte es vorher, einem Ereignis möglichst nah zu kommen, kam sie ihren Motiven beinahe zu nah. „Meine Fotos entstehen aus Beziehungen, nicht aus Beobachtungen“, sagt sie. „Ich setze nicht Bilder um, die ich in meinem Kopf habe, sondern mache Erfahrungen, die zu Bildern werden.“ Dabei stieß zunächst nicht nur die sexuelle Freizügigkeit auf Ablehnung. Dass sie glaubte, mit Fotos, die selbst nach ihren eigenen Maßstäben privat sind, einen Kunststatus behaupten zu können, war mehr als irritierend. Was hatte sie zu bieten? Ihre Motive waren immer ihre Freunde, Liebhaber oder Vertraute, ihr Klan oder Stamm, wie sie sagt. Der Betrachter taucht unweigerlich ein in diese Welt, in der Männer und Frauen nur Vornamen haben. In den Siebzigern zählten die transsexuellen Nachtleben-Gestalten ihrer Heimatstadt Boston und später in New York dazu, wo sie aus Geldmangel als Barkeeperin in Clubs arbeitete; in den Achtzigern dann die von Aids zerrüttete Homosexuellen-Szene, bis schließlich Familien in Sommerhäusern, Kinder, Landschaften und leere Räume zunehmend ihr Interesse weckten.

Goldins Ausstellungen sind Materialschlachten. Allein die jetzt im Postfuhramt gezeigten sechs Arbeiten umfassen tausend Bilder. Goldin hat sie zu Themenblöcken geordnet, die als Dia- Shows vorgeführt werden. Sie entwickelte diese Methode bereits als Kunststudentin. In New York konnten Clubgänger sich zuweilen als Diaprojektionen an die Wand geworfen sehen. Tatsächlich haben die Selbstporträtserie „All By Myself“ (1995/96) oder ihr Hauptwerk „The Ballad of Sexual Dependency“ (1981) mehr mit Kinofilmen gemein als mit fotografischen Tableaus. Betonen sie doch das serielle Moment von Goldins Ansatz, Menschen über einen langen Zeitraum zu dokumentieren. Porträts, das sind für sie Bilderklumpungen, weil eine einzige Einstellung nicht ausreiche, einen Menschen zu erfassen. „Ich mache tausende Bilder. Das liegt wohl an der Großzügigkeit, die ein Charakterzug von mir ist“, sagt sie.

Wie einschneidend dieser Perspektivwechsel Ende der siebziger Jahre war und wie viel Mut dazugehörte, mit den Bildern ihres Lebens an die Öffentlichkeit zu gehen, ist angesichts der heutigen Ausstellung des Privaten kaum noch zu ermessen. „Als ich begann, bestand die Dokumentarfotografie aus weißen Mittelschichtsmännern, die nach Indien fuhren, um exotische Bilder zu machen“, erzählt Goldin. „Sie hatten nicht die Zeit, die Menschen kennenzulernen und wollten es auch nicht. Ich habe fotografiert, was ich kannte. Und obwohl ich fand, dass meine Bilder gut aussahen, verstand ich bald, dass meine besten Bilder die naivsten und schlechtesten waren. Also beschloss ich, dass mein Leben als Dokument genau so viel taugt wie jedes andere Leben.“

Wir werden über ihr Leben sprechen müssen.

Das Interview wird mehrfach verschoben. Nun ist es Abend. Die Fotografin und ihre Helfer schlurfen erschöpft durch die Räume, in denen die Diaprojektoren summen, um das geraffte Bildergedächtnis abzuspulen. Goldin hat feuerrote Locken, die ihr wie Federn auf die Schultern fallen. Ihre Stimme ist rau und hart. Aber etwas an ihrem Körper, das über Erschöpfung hinausgeht, verrät auch, wie deprimiert sie ist, mehr abgekämpft als müde. Man merkt ihr die Auseinandersetzungen an, die sie geführt hat.

Goldins junge Assistentin, die zudem ihre Nichte ist, stellt Stühle unter einen Scheinwerfer direkt vor das Getöse des Raumes, in dem „The Ballad“ gezeigt wird. Sie bringt auch Cola Light, aber Goldin verschüttet ihr Glas. Hilflos beobachtet sie, wie die braune Flüssigkeit im Teppich versickert.

Sie hat einmal gesagt, dass sie Fotos mache, um die Dinge in Erinnerung zu behalten, vor allem Gefühle. Als Kind wollte sie Psychoanalytikerin werden. Auf ihre Art ist sie es sogar geworden. „Mich interessiert hauptsächlich die Psyche von Menschen“, sagt sie und weiß, dass die emotionale Verfassung das Einzige ist, das man nicht fotografieren kann. Aber nichts versickert so schnell wie ein Gefühl.

An Berlin hat Nan Goldin intensive Erinnerungen. 1983 kam sie zum ersten Mal hierher und lebte in einem besetzten Haus in Kreuzberg. „Eine der grausamsten Erfahrungen meines Lebens machte ich in Berlin, als mein damaliger Freund mich zusammenschlug. Ein Foto aus jener Zeit zeigt sie mit geschwollenem Gesicht, ein Auge ist blutunterlaufen und beinahe erblindet. Es ist kein anklagendes Bild, vielmehr eine Antwort auf die berühmt gewordene Bettszene, die sie kurz zuvor mit ihrem Lover in New York aufgenommen hatte. Er, Brian, raucht nach dem Sex eine Zigarette, sie liegt in den Laken und schaut ihn schweigend an – als Opfer einer Hingabe, die sie in ihrem Zyklus über die „sexuelle Abhängigkeit“ ausloten sollte.

„Am Anfang meiner Arbeit stand die Erkenntnis, dass Menschen, die sonst überhaupt keine Gemeinsamkeiten haben, sich auf einer sexuellen Ebene anziehen. Sie tun einander nicht gut, was dem Sex nur eine umso größere Bedeutung beimisst. Es ist wie eine Sucht, miteinander zu schlafen, womit man sich alle möglichen Katastrophen einhandelt. Männer und Frauen leben in unterschiedlichen Wirklichkeiten. Trotzdem ist Unabhängigkeit nicht das wichtigste, wenn man mit einem eifersüchtigen, besitzergreifenden Menschen zusammen ist. Sondern? Menschen wählen die Abhängigkeit, weil sie sich gut dabei fühlen. Das vergessen wir gerne, wenn wir über Süchtige reden." Nan Goldin hasst das modische Gerede von der Ko-Abhängigkeit, bei der jemand, der mit einem Süchtigen zusammenlebt, dessen Sucht bald so behandelt wie der Süchtige selbst. Mittlerweile gibt es viele Bücher mit Ratschlägen, wie man sich solchen verflochtenen Abhängigkeitsverhältnissen entziehen kann. „Aber ich habe überhaupt nichts gegen diese Form der Bindung“, sagt sie. „Es ist bei Paaren nun mal so, dass einer immer abhängiger vom anderen ist als umgekehrt. Der Ursprung des Wortes ist positiv besetzt: an jemandem hängen. Das ist aber mit Abhängigkeit, wie wir sie verstehen, nicht gemeint. Der negative Beiklang entsteht, weil wir von Beziehungen reden, die ohne seelische, emotionale Bindung sind.“

Das ist eine für das Goldinsche Werk wesentliche Erkenntnis. Die „Family of Nan“, wie Helmut Newton die Anthropologie seiner Kollegin in Anlehnung an Edward Steichens berühmte MoMA-Ausstellung nannte, wird durch ein starkes Band miteinander verbunden. Eine Gegenfamilie zur biologischen Zwangsgemeinschaft. Ihrem Elternhaus, einer jüdischen Vorstadtfamilie, ist Nan Goldin als jüngstes von vier Kindern früh entwachsen. „Meine Freunde haben mir die Familie ersetzt“, erzählt sie mit krächzender Stimme. „Deshalb bedeutet mir Freundschaft so viel. Ich habe Freunden immer Vorrang vor meinen Liebhabern eingeräumt, was die nicht verstehen konnten. Viele Beziehungen sind darüber zerbrochen.“

Als sich ihre ältere Schwester 1965 das Leben nimmt und die Familie versucht, den Selbstmord zu vertuschen, treibt Nan Goldin das endgültig ins emotionale Exil. Mit 14 reißt sie aus. Sie hat einen schwarzen Freund, und gemeinsam schlagen sie sich nach Cleveland durch, wo sie aufgegriffen und wieder zurückgeschickt wird. Sozialarbeiter, Psychologen, ihre Eltern und sie selbst kommen überein, dass sie als Pflegekind in eine fremde Familie besser aufgehoben wäre. "Es waren reiche Leute, ohne eigene Kinder. Sie wünschten sich ein schwarzes Baby. Aber in dem Jahr gab es keine schwarzen Babys. Also nahmen sie mit mir Vorlieb, denn ich war ein Hippiekind mit einem schwarzen Freund. Allerdings langweilte ich sie bald. Ich war eben kein schwarzes Baby. Von da an war ich allein.“ 

Etwas Prekäres geht von ihr aus. Sie hat Drogen genommen, kam nur mühsam von ihnen weg. Selbstmordversuche liegen hinter ihr. Verletzungen zeugen von einem schonungslosen Leben. Als junges Mädchen war sie so scheu, dass sie nicht mal sprechen konnte. Nachdem ein Lehrer ihr eine Polaroidkamera in die Hand drückte, wurde der Apparat zu ihrer Obsession. Zunächst fotografierte sie nur drinnen. Partys, Trinkgelage, Tresengespräche. Sie kannte das Tageslicht zu wenig, um sein Farbenspiel einschätzen zu können. Erst bei ihrem Entzug 1988 bekam sie ein Bewusstsein für die Außenwelt.

Wie schaffen Sie es, möchte man wissen, dass die Menschen Ihnen ihre Privatsphäre öffnen und sogar erlauben, beim Sex zuzusehen?

"Indem ich mit ihnen lebe", lautet die lakonische Antwort. "In meiner Zeit mit den Drag Queens kamen regelmäßig Fotostudenten vorbei, um die Transvestiten zu porträtieren. Ich war ständig um sie. Das sagt zwar nichts über die Fotografie selbst aus, aber ich versuchte nie, sie sich ausziehen zu lassen, um hinter die Maskerade zu gucken. Ich habe sie immer nur so gesehen, wie sie sich auch selbst gerne sahen. Sie kennen sicherlich", fährt sie fort, "was über afrikanische Stämme gesagt wird und ihre Scheu, sich fotografieren zu lassen, weil es ihnen angeblich die Seele raubt. Dabei kommt es nur darauf an, wer hinter der Kamera steht und ob er die Seele wieder zurückgibt. Viele Leute wussten gar nicht, wie schön sie sind, bis sie sich auf meinen Bildern sahen."

Sie sind eine Schamanin?

"Eher eine weiße Fee."

Bei Nan Goldin wird gerne das kompositorische Element übersehen, da ihre Bilder viel zu zufällig wirken, um gewollt zu sein. Doch fängt sie Momente größter Beiläufigkeit ein, weil sie sich für alltägliche Gesten interessiert. Wie eine Zigarette gehalten wird, dass sie cool aussieht. Wie der Arm eines Mannes sich auf die Schulter eines anderen legt. Wann die Geschlechter aufhören, sich maskulin oder feminin zu gebärden. „Über die Bildkomposition mache ich mir keine Gedanken, denn ich bin Teil der Komposition“, sagt Goldin.

Aber Nan Goldin ist an einen Endpunkt gelangt. „Fotografie interessiert mich nicht mehr“, sagt sie leise. Ihr Stil wird in Modemagazinen kopiert, die aufwendig den spontanen, situativen Blick Goldins nachinszenieren. Und gefährlich nahe rückt ihr auch das Facebook-Zeitalter mit seinen demonstrativ ausgestellten Freundescliquen und privaten Schnappschüssen. Was kann eine Künstlerin wie sie mit ihren hohen moralischen Ansprüchen gegen diesen der Terror der Intimität ausrichten, dem sie visuell den Weg geebnet hat? Man könne der Fotografie in Zeiten von digitalen Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop nicht mehr trauen, zürnt sie. „Ich bin durch die ,Kratzer-und-Staub-Schule' gegangen, weil mich der Inhalt mehr interessierte als der fertige Abzug. Aber als ich neulich bei einer Vorlesung vor 150 Zuhörern die Frage stellte, wie viele glaubten, dass Fotos wahr seien, hoben nur fünf die Hand. Man kann sich der digitalen Bildmanipulation nicht mehr entziehen.“

Damit ist ihr auch die Motivation geraubt, sich wie bisher um reale Erinnerungen zu kümmern. Zum Abschluss reicht sie Kontaktabzüge neuer Arbeiten. Darauf sind Wolken zu sehen, der Himmel. Das Nichts. Ihr Stamm existiert weiter. Aber wie sehr die Situation sie bedrückt, zeigt ihre harsche Weigerung, über die Communities im Internet zu reden. „Es macht mir verdammte Angst zu sehen, was Freundschaft im Netz bedeutet. Eine Zahl, die deinen Wert steigert. Wie verrückt ist das denn?“ 

Nan Goldin, Poste Restante, Dia-Erzählungen im Postfuhramt (Oranienburger Str. 35/36, Mitte), bis 6. 12, tägl. 11 - 20 Uhr.

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