zum Hauptinhalt
Hängt und hängt. Auf seiner Reise durch Deutschland besuchte Johannes Haile auch das VW-Werk in Wolfsburg.

© Johannes Haile/ifa-Galerie

Ausstellung in der ifa-Galerie: Ein unverblümter Blick auf die 60er

1962 kam der Äthiopier Johannes Haile nach Deutschland. Er fotografierte: Die Menschen, das Wirtschaftswunder, die Nachkriegswunden. Zum ersten Mal sind seine Bilder hier zu sehen.

Wirtschaftswunder und Nachkriegswunden, davon war die Bundesrepublik Anfang der Sechzigerjahre geprägt. In den Fotos von Johannes Haile ist es mit Händen zu greifen, das Selbstbewusstsein einer tüchtigen, aber auch autoritätshörigen und unterschwellig schuldbewussten Nation. In den Blicken der Passanten und Porträtierten lauert die Irritation des Entkommenseins.

Der Äthiopier kam im August 1962 im Auftrag der Deutschen Botschaft nach Berlin, ins Ruhrgebiet, ins Alpenvorland oder ins VW-Werk nach Wolfsburg, um die Nachkriegs-Industrienation zu fotografieren, Land und Leute, Fabriken, Kaufhäuser, Schulen, sieben Wochen lang. Seine Reise wurde von Inter-Nationes organisiert, mit einem Laissez-Passer der UN gelangte Haile auch nach Ost-Berlin. Der Himmel färbt die Schwarz-Weiß-Bilder grau, es regnet an diesem Tag, und die Menschen schauen ein wenig misstrauischer in seine Kamera als im Westen. Weil da einer ganz unverblümt fotografiert? Weil da ein Schwarzer auf den Auslöser drückt? Die Frankfurter Allee ist menschenleer, eine Fassade in Prenzlauer Berg von Einschusslöchern übersät, und in der Zimmerstraße wieder im Westen liegt ein Meer von Blumen und Kränzen für den Mauertoten Peter Fechter, der hier elend verblutet ist.

Johannes Hailes Deutschlandbilder sind zum ersten Mal hierzulande zu sehen, in der Berliner ifa-Galerie im Rahmen des Monats der Fotografie und darüber hinaus bis Anfang Dezember. Ausgestellt wurden sie damals lediglich in Addis Abeba: Zur Eröffnung von „Ein Äthiopier besucht Deutschland“ im Februar 1964 spielte das Ethiopian Symphony Orchestra, in Anwesenheit von Kaiser Haile Selassie. Jetzt hat Kuratorin Meskerem Assegued eine Auswahl der Bilder neu zusammengestellt, Titel: „Mit anderen Augen“.

1962 war Haile 35 Jahre alt. Er hatte das Fotografieren als Kind von Mussolinis Truppen gelernt, als die Italiener das Kaiserreich Abessinien besetzten. In den 50ern studierte der Sohn aus noblem Hause in den USA und fungierte als Hoffotograf: Seine Visitenkarte zierte das kaiserliche Wappen, wie Mit-Initiatorin Marie Knott im Begleitbuch schreibt. Er arbeitete dann als Fotograf für internationale politische Institutionen, etwa die Organisation für Afrikanische Einheit und die Vereinten Nationen. Viele seiner Auftragsfotos, auch von anderen Reisen in offiziellem Auftrag, hat Haile später verbrannt. Die Berliner Ausstellung, die 2017 nach Stuttgart weiterwandert, konnte er noch selbst mit vorbereiten – er starb jedoch im April dieses Jahres.

Menschen in der Arbeitswelt, das war Hailes Sujet, so lebensnah wie möglich. In der Kunst, das Zutrauen der Porträtierten zu gewinnen, war er offenbar Meister. Das Porträtstudio in Addis Abeba, das der im Katalog als Gentleman und Exzentriker beschriebene Fotograf ein halbes Jahrhundert lang betrieb, soll legendär gewesen sein.

Jedes seiner Deutschlandbilder lässt sich mühelos wie eine Reportage lesen, wie ein Erkenntnismoment, man spürt sofort die amerikanische Schule. So fotografiert er seine Landsleute im Ruhrpott am Hochofen ebenso wie beim Essen im Internat, mit weißen Tischdecken und dem Häubchen im Haar der Serviererin. Viele junge Männer aus Afrika kamen in jener Zeit mit Stipendien nach Deutschland. Oder die Nonnen und Priester in Köln – in der Stadt am Rhein registrierte Johannes Haile mit der Kamera die Omnipräsenz des Katholizismus.

Maloche, Freizeit, Alltag

Da sind die ersten Langhaarigen auf der Straße. Der Lotterieverkäufer. Das Schulmädchen mit den blonden Zöpfen im Klassenzimmer, das fast aufmüpfig die Arme verschränkt. Ein Volksfest im bayrischen Wirtshaus nimmt sich wie ein Stammesritual aus, mit Männern in Kniestrümpfen und Lederhosen. Der Kuh neben dem überdachten Wegkreuz in den Bergen verleiht Haile eine surrealistische Anmutung, im VW-Werk sitzen die ersten Gastarbeiter neben Einheimischen. Maloche, Freizeit, der Alltag als Sittengemälde: Der Arbeiter, der erst am Fabrikausgang einer Walzfabrik steht, hockt auf den nächsten Bildern beim Likörchen im Wohnzimmer, daneben die Gattin in Kittelschürze, lachend, rauchend.

Ob stämmige Brauereipferde, der feine Schwung einer Warenhaus-Rolltreppe oder das Lichtdesign der Vitrinen auf dem nächtlichen Kurfürstendamm, auch die Konsumgesellschaft der sechziger Jahre nahm Johannes Haile aufmerksam wahr. Zu seinen stärksten Deutschlandbildern zählen Gruppenfotos an Fußgängerampeln, die Rushhour der Angestellten und ein Trupp energischer Frauen, mit großen Handtaschen ausstaffiert, zukunftsgewiss, als sei nichts gewesen. Dagegen das versehrte Deutschland in Berlin, das Nebeneinander von Neubaustellen und Kriegsruinen – und die Schupos mit Regenmänteln am Mauerstreifen.

Die Ausstellung in der Linienstraße verzichtet auf jede Beschriftung der Bilder. Ein Purismus, der genaueres Hinsehen provoziert. Die eine oder andere Erläuterung hätte dennoch nicht geschadet, sie würde den Blick zusätzlich schärfen.

„Mit anderen Augen“. ifa-Galerie, Linienstr. 139/140. Bis zum 18. Dezember. Di–So 14–18 Uhr. Begleitbuch 88 Seiten, 15 Euro. Infos: www.ifa.de.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false