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Ausstellung in Riga: Unter Wahlverwandten

Das Lettische Nationalmuseum in Riga zeigt „Deutsche Kunst seit 1960“.

Lettland ist ein kleines Land. Von den zwei Millionen Einwohnern lebt die Hälfte im weiteren Bereich der Hauptstadt Riga. Da kommt der Staatspräsident schon einmal vorbei, um eine Kunstausstellung zu eröffnen. Diese Ausstellung zur deutschen Kunst seit 1960 ist Raimonds Vejonis offenkundig sehr wichtig, und er kommt gleich zur Sache. „Lettland und Deutschland sind Freunde...“, betont er – und wiederholt es im Schlusssatz nochmals. Die baltischen Staaten, die sich ihre Unabhängigkeit mit der beispiellosen, 650 Kilometer langen Menschenkette vom 23. August 1989 erstritten haben, betrachten ihre geopolitische Lage mit gespannter Aufmerksamkeit. Da ist es nicht verkehrt, sich der Freundschaft eines einflussreichen Landes zu versichern, wo immer sich die Gelegenheit bietet.

Dem veranstaltenden Lettischen Nationalmuseum geht es zuallererst um die Kunst. Das ist für jedermann erkennbar, denn der Ausstellung wurde das gesamte Arsenal zur Verfügung gestellt, die Zweigstelle des Museums für Wechselausstellungen. Als Kurator wurde Mark Gisbourne gewonnen, der in Berlin lebende Kunstvermittler und – nach dem „Brexit“ erst recht – bekennende Europäer, der als Leiter der alljährlich im Brandenburgischen gastierenden Wanderausstellung „Rohkunstbau“ vor allem mit der unmittelbaren Gegenwartskunst vertraut hat. Für Riga hat er 77 Arbeiten von 53 Künstlern ausgewählt.

Statt einer chronologischen Hängung wählte er eine thematische Gliederung in vier Kapiteln, was sich im Katalog einleuchtend liest, an den Stellwänden des Arsenals jedoch nicht gleichermaßen überzeugt. Mit dem Titel „Wahlverwandtschaften“ versucht die Ausstellung, die enorme stilistische Spannbreite der deutschen Kunst des zurückliegenden halben Jahrhunderts einigermaßen fassen.

Gibt es denn überhaupt ein gemeinsames Band, das so unterschiedliche Arbeiten wie Karl Horst Hödickes überschäumend fröhliches Maueröffnungsbild „Sturm aufs Brandenburger Tor“ aus dem Winter 1989/ 90 mit der düsteren Vergangenheitsbeschwörung Anselm Kiefers in „Dem unbekannten Maler“ von 1982 zusammenhält? Den spielerischen Witz Sigmar Polkes mit dem rätselvollen Tiefsinn Neo Rauchs, dessen hier gezeigter „See“ das Inventar seines post-sozialistischen Realismus versammelt?

Zumindest setzt Gisbourne, dieser fröhliche Kunst- und Menschenverbinder, nicht auf die naheliegende (Fehl-)Interpretation deutscher Kunst als grundsätzlich melancholisch bis depressiv. Auch wenn das größte Format der Ausstellung, „Die Gefangenen“ des gebürtigen Münchner und Neu-Berliners Ruprecht von Kaufmann, eher ein Untergangsszenario darstellt – doch delikat in fast monochromer Palette gemalt.

Allerdings hätte ein wenig Differenzierung nach westdeutscher Bundesrepublik und ostdeutscher DDR gutgetan. Aus der Auswahl fällt das ölfarbenstrotzende Antifa-Bild des Hallenser Staatsmalers Willi Sitte, „Warschauer Paar“ von 1967, doch sehr heraus. Schließlich arbeitet Lettland wie alle drei baltischen Staaten an seiner Geschichte zwischen sowjetischer Unterdrückung und nationaler Selbstbehauptung, auch und gerade in kultureller Hinsicht. Lettland ist ein weltoffenes Land, Hunderttausende Letten sind seit der Unabhängigkeit ausgewandert und suchen ihr Glück in Europa, dem das Land aufs Engste angehört.

Damit steht die Betonung und Pflege des nationalen Erbes nicht im Widerspruch. Das Nationalmuseum zeigt in den gerade erst wunderbar renovierten Räumen seines Hauptgebäudes eine Übersicht über lettische Kunst, bei der die Jahrzehnte des von der Sowjetunion verordneten Sozialistischen Realismus durchaus nicht verschwiegen werden. Im Gegenteil: Was im Museum zu sehen ist, zählt zum Besten, was in den Grenzen der Doktrin und ihrer jeweiligen Auslegung möglich war. Insbesondere die künstlerisch-dokumentarische Fotografie hat seit den sechziger Jahren – ähnlich wie in der damaligen CSSR – den Realismus als vernehmbare Kritik an den Zuständen verstanden. In der Malerei sucht man Huldigungsbilder der Stalin-Zeit ebenso vergeblich wie den aufgesetzten Optimismus der siebziger Jahre, der in der DDR so geschätzt wurde. Auffällig sind die Arbeiten in Richtung eines fantastischen Realismus von Maija Tabaka, einer Künstlerin, die dank eines daad-Stipendiums im West-Berlin der späten Siebziger lebte und Furore machte.

Das renovierte Nationalmuseum – übrigens 1905 von einem baltendeutschen Architekten entworfen – steht für das Selbstbewusstsein des Landes, die Ausstellung deutscher Kunst für seine Weltoffenheit. Und für das vorrangige Interesse an Kultur – denn: „Wir haben Politik dermaßen satt“, sagte Museumsdirektorin Mara Lace bei der Vorbesichtigung, und man möge die deutsche Ausstellung doch bitte „nicht als einen Akt der Politik ansehen“. Was sie aber natürlich ist: ein Akt der europäischen Politik, die das baltische Land aus wohlverstandenem Interesse verfolgt.

Riga, Arsenal (Torna iela 1), bis 21. August. Katalog im Kerber Verlag, 40 €.

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