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 Bethlemskirche in einer Installation visualisiert.

© Maurizio Gambarini/dpa

Ausstellung „St. Nirgendwo“: Gott wohnt hier nicht mehr

In Berlin gibt es zahlreiche zerstörte Sakralbauten: Die Ausstellung „St. Nirgendwo“ erkundet die einstige Standorte von Kirchen und Synagogen.

Man kennt das als Venedig-Effekt. Wer genug vom Gewusel hat, biegt um zwei Straßenecken und staunt. Wer vom Checkpoint Charlie Richtung Potsdamer Platz läuft, landet nach ein paar Metern auf dem Bethlehemkirchplatz – und erfährt mehr über Berlin als an so manchem Touristen-Hotspot.

Im Windschatten von DDR-Platte und klotziger Investoren-Moderne steht dort ein über 30 Meter hohes Etwas, das sich von selbst erklärt: Mit schwarzen Stahlprofilen und ein paar LED-Lampen, die nachts magisch leuchten, hat der spanische Künstler Juan Garaizabal 2012 im Maßstab eins zu eins das Volumen der barocken Bethlehemskirche in die Luft gezeichnet. Die 1735–37 für aus Böhmen geflüchtete Protestanten errichtete Kirche wurde 1943 zerbombt und 1963 für die Anlagen des Grenzkontrollpunkts abgerissen. Zusätzlich stoßen aufmerksame Stadtspurensucher am Bethlehemkirchplatz auf den ins Pflaster eingelassenen Kirchengrundriss, eine Infosäule mit Text und Fotos sowie Claes Oldenburgs Skulptur „Houseball“, die das verschnürte Hab und Gut böhmischer Glaubensflüchtlinge symbolisiert. Heute kommen Geflüchtete meist mit weniger Gepäck.

Für Benedikt Goebel und Volker Hobrack ist die dicht geknüpfte Erinnerungslandschaft am Bethlehemkirchplatz nur die zweitbeste Lösung. „Das stärkste Projekt in Berlin wird das House of One am Petriplatz, mehr Wiedergewinnung eines einstigen Sakralorts geht nicht“, schwärmt der Stadthistoriker Goebel. Leider ist das House of One noch immer Zukunftsmusik: ein vom Senat seit Jahren geplanter, mehrmals aufgeschobener, hoffentlich bald begonnener Neubau für die drei abrahamitischen Weltreligionen Christentum, Judentum, Islam, errichtet über den Grundmauern von St. Petri, dem ältesten Kirchenstandort der Stadt. Deren wiederaufbaufähige Ruine wurde 1962–64 geschleift, weil sie dem Ausbau der Leipziger Straße zur „Sozialistischen Magistrale“ im Weg stand.

Lücken im Stadtbild

Wann eigentlich schlug die sprichwörtliche Berliner Toleranz in Religionsfragen in religiöses Desinteresse um, und wo hinterließ diese Leerstelle in Herzen und Köpfen spürbare Lücken im Stadtbild? Fragen wie diese treiben Goebel und Hobrack seit Jahren um. Der promovierte Historiker Benedikt Goebel ist Fachmann für reale wie für ideelle Verluste. Für die Stiftung Stadtmuseum kuratierte der freiberufliche Stadtforscher zwei große, vielbeachtete Ausstellungen über den Modernisierungsdruck und die daraus resultierenden Flächenabrisse sowie über die Entrechtung und Enteignung jüdischer Immobilienbesitzer im Berliner Stadtzentrum. Als Experte äußert sich Goebel regelmäßig, wenn Abrisse oder Beeinträchtigungen historischer Substanz in der Innenstadt drohen. Volker Hobrack, mittlerweile pensionierter Bauingenieur, kam Anfang der Neunziger durch Inge Deutschkron zur Stadtgeschichte, „weil ich das einzige Ost-SPD-Mitglied war, das sie kannte“. Über zwei Jahrzehnte lang leitete er die Gedenktafelkommission des Stadtbezirks Mitte, bis heute ist er Vorsitzender des Bürgervereins Luisenstadt.

„Wir sind lauter Freaks"

Als Köpfe einer aus zwölf Mitstreitern bestehenden Arbeitsgruppe („Wir sind lauter Freaks“) haben sie mit Unterstützung des Bürgervereins Luisenstadt eine Ausstellung auf den Weg gebracht, die nun in der evangelischen St.-Thomas-Kirche am Kreuzberger Mariannenplatz gastiert: „St. Nirgendwo! Verlorene Gotteshäuser in der Berliner Mitte“ stellt 16 von insgesamt 22 von der Arbeitsgruppe in mehrjähriger Recherche ermittelte Sakralbauten des Berliner Stadtzentrums vor, die heute nicht mehr stehen. Als Grenze des Untersuchungsgebiets wurde die ehemalige Akzisemauer des 18. Jahrhunderts gewählt, die ein Gebiet umschloss, das heute zu Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg gehört. Neben den beiden jüdischen Gemeindesynagogen in der Heidereutergasse und der Johannisstraße gingen im 20. Jahrhundert ausschließlich evangelische Kirchen verloren, katholische Standorte sind nicht betroffen. „Da war der Segen unterschiedlich verteilt“, kommentiert der in Wittenberg geborene Hobrack trocken.

Als das Projekt Gestalt annahm, versuchten die beiden bei den Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und Kultur, bei der Evangelischen Landeskirche und bei Stiftungen Fördermittel aufzutreiben. „Schulterklopfen, wohlwollendes Nicken, trotzdem sind wir überall abgeblitzt“, resümiert Hobrack. Letztlich waren es neben dem Bürgerverein Luisenstadt dann gute Freunde wie der Ausstellungsbauer Michael Rädler, die zur Realisierung der Low-Budget-Ausstellung beitrugen.

Mehrere Aktivisten des Arbeitskreises wie die Kunsthistorikerin Maren Krause oder der Bauforscher Peter Lemburg steuerten Texte zu den 16 ausgewählten Totalverlusten bei, zwei Karten geben den Überblick über die Standorte erhaltener und verlorener Sakralbauten sowie der zugehörigen Friedhöfe. Der Stadtplaner Ludwig Krause fertigte je Verlustbau eine Zeichnung an, die das Vergangene in den heutigen Stadtraum hineinprojiziert: Wie sähe es denn überhaupt aus, wenn die Jerusalemkirche, deren Ruine 1961 dem Großstadtverkehr zum Opfer fiel, unbeschädigt direkt vorm Axel-Springer-Hochhaus stünde? Oder die 1856 geweihte St.-Andreas-Kirche sich unmittelbar neben dem Ostbahnhof behaupten müsste?

„Selig sind die Gottes Wort hören und bewahren“ steht über dem Hauptportal von St. Thomas, dem Eingang zur Ausstellung. 300 000 Menschen zählte die einst personenstärkste Gemeinde Europas, heute sind es trotz Gemeindezusammenlegungen nur noch 1500 Seelen. Berliner Kirchenbau im 18. und 19. Jahrhundert war nicht nur eine Frage des schönen Stadtbildes, sondern antwortete oft genug auf Einwanderungswellen und soziale Herausforderungen.

Die Orte, an denen Sakralbauten einst standen, wirken heute zuweilen merkwürdig provisorisch. „Misstraut den Grünanlagen“, riet der Berliner Autor Heinz Knobloch seinen Lesern. Wer nur ein wenig gräbt, findet Erinnernswertes in großen Mengen.

St.-Thomas-Kirche am Mariannenplatz, Kreuzberg, bis 22. November, geöffnet Mo–Fr 11–14 Uhr und Sa 11–16 Uhr.

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