zum Hauptinhalt
Landschaft aus Buchstaben. "Théâtre libre",Lithografie von Paul Signac (1989)

© Dietmar Katz

Ausstellung: Text und Tattoo

„Schriftfreie Räume werden rar“, schreibt Moritz Wullen, Direktor der Kunstbibliothek. Grund genug, der Schrift eine ganze Ausstellung zu gönnen. „Welt aus Schrift“ in der Berliner Kunstbibliothek.

Überall Zeichen. Die Wände sind mit Buchstaben tapeziert, die Vitrinen randvoll mit bedrucktem Papier. Sogar im Treppenhaus des Kulturforums stolpert man über Sätze: „Sicher wissen Sie bereits, was Serifen sind,“ plappern die altklugen Stufen, „diese zarten Füßchen, auf denen die Lettern stehen.“

Das Angebot an mehr oder weniger sinnvollen Texten und Zeichen übertrifft die Alltagsrealität nicht einmal. Vielleicht fallen sie uns einfach nicht mehr auf, die T-Shirt-Aufdrucke, Straßenschilder oder Schlagzeilen, die uns mit Text bombardieren. „Schriftfreie Räume werden rar“, schreibt Moritz Wullen, Direktor der Kunstbibliothek, im Katalog zur Ausstellung „Welt aus Schrift“. Als nonverbale Reservate fallen ihm gerade noch Wälder, Wüsten, Sümpfe und Meere ein. Museen gehören jedenfalls nicht dazu.

Wullen läutet einen „Schriftherbst“ ein. Die Kunstbibliothek macht den Anfang, behandelt die Zeit vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis heute. Ab Ende Oktober liefert das Kupferstichkabinett die Geschichte der Schrift ab dem Mittelalter nach. Bis Januar laufen die Schauen parallel.

Auf 100 000 Schriften schätzt Anita Kühnel den heutigen Vorrat. Sie leitet die Sammlung Grafikdesign der Kunstbibliothek. „Nichts wäre langweiliger geworden, als all diese Schriften vorzustellen“, sagt die Kuratorin. Mit fast 600 Objekten – Büchern, Zeitschriften, Plakaten, Schriftmustern und Fotos – gibt sie einen Einblick in den typografischen Teil der Sammlung so groß wie nie zuvor.

Die Gestalter Bernard Stein und Slawek Michalt verzichten kühn auf Ausstellungsarchitektur. Die Gliederung mit roten und schwarzen Fonds bringt Spannung und Ordnung zugleich in den Aufbau. Der eigentliche Showroom der Kunstbibliothek wird von Studenten der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig mit originellen Objekten und Environments bespielt.

Die eigentliche Schau macht in chronologischen Sprüngen die Metamorphosen von Text erlebbar, verteilt auf zwei Stockwerke. Woher die Vielfalt? Schrift ist nicht nur Informations-, sondern auch Ausdrucksmedium. Außerdem konkurriert Geschriebenes nicht erst seit dem „Iconic Turn“ mit dem Bild. Notgedrungen hat sich Schrift immer wieder neu erfinden müssen.

Künstler auf der einen Seite, Gestalter auf der anderen haben die Typografie beflügelt und ihre Geschichte geprägt. William Morris (1834 – 1896), der Begründer der Arts-and-Crafts-Bewegung, wird während seiner letzten fünf Lebensjahre zum typografischen Erneuerer. Seine Kleindrucke „machen schnell die Runde“, erklärt Kühnel, „und finden europaweit Nachahmer.“

In den zwanziger Jahren muss sich Schrift verstärkt gegen die anschwellende Bilderflut wappnen. Das Schriftplakat setzt sich aber gegen das Bildplakat durch. Auf Boris Bilinskys Plakat zum berühmten Fritz-Lang-Film erobern rote „Metropolis“-Lettern eine Wolkenkratzerlandschaft. Kühnels Stolz: das drei Meter lange Poster scheint das einzig erhaltene zu sein.

Politische und ideologische Motive in der Wahl von Schriften sind ein wichtiger Aspekt. Der Antiqua-Fraktur-Streit in Deutschland schien spätestens mit dem Bauhaus beigelegt. Doch im Nationalsozialismus erlebte die „gebrochene“ Frakturschrift teils eine Renaissance, ohne sich auf allen Ebenen durchzusetzen. Ein Wahlplakat Willi Engelhardts von 1932, auf dem der Slogan „Hitler baut auf“ in Antiqua-Schrift zu lesen ist, wirkt – formal, versteht sich – verblüffend modern.

Im Nachkriegseuropa gibt die Schweizer Grafik den Ton an. Max Miedinger entwickelt die serifenlose „Helvetica“, die später von Adrian Frutigers „Univers“ ausgestochen wird. In den Siebzigern tauchen plötzlich wieder Frakturschriften auf. Jugendkulturen wie Metal und Gothic setzen sich mit „altdeutschen Buchstaben“ vom Mainstream ab.

Pluralismus drückt dem letzten Segment der Ausstellung seinen Stempel auf. Lettern-Wildwuchs ist in Techno-Magazinen der Neunziger angesagt. Die Textgestaltung des US-Grafikers David Carson erinnert an stürmische See. Kein Wunder, das Multitalent hat auch als Surfer Geschichte geschrieben. Sein österreichischer Kollege Stefan Sagmeister ließ sich die Ankündigung eines Vortrags in Detroit in die Haut ritzen. Das Plakat wurde zur Ikone.

Sagmeister nimmt die Tatsache wörtlich, dass wir alle längst Teil einer „Welt aus Schrift“ geworden sind, mit jeder geschulterten Sporttasche und jedem Designerlogo auf der Brust. Wird „Text statt Bild“ der nächste Tattoo-Trend sein?

Ausstellung "Welt aus Schrift": Kulturforum, Sonderausstellungshallen, Matthäikirchplatz, bis 16.1.2011; Di – Fr 10–18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Sa / So 11–18 Uhr.

Jens Hinrichsen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false