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Die „Berliner Venus“ von Sandro Botticelli, 1490. Staatliche Museen zu Berlin - Gemäldegalerie.

© Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Jörg P. Anders

Ausstellung "The Botticelli Renaissance": Die Macht und die Schönheit

Sandro Botticellis Werk fordert immer wieder zu Neuinterpretationen heraus. Die Berliner Ausstellung fügt ein weiteres Kapitel hinzu.

Die Wiederentdeckung Botticellis durch die englischen Präraffaeliten des neunzehnten Jahrhunderts hat dessen populäres Bild bis heute bestimmt. In seinen mythologischen Gemälden wie auch seinen Verkündigungen und Engelschören schien sich eine überirdische Schönheit gegen die Welt des Realen zu richten: verführerisch, elegisch, feinfühlig, aber auch widerständig.

In Herbert Hornes grundlegender Monographie aus dem Jahr 1911 kam jedoch eine zeitgenössische Deutung zu Wort, die dem Tenor dieser Deutung widersprach: Im Jahr 1492 verband ein Mailänder Kunstagent das Lob, Botticellis Stil sei mit „Überlegung“ und „Proportion“ entwickelt, mit der erstaunlichen Charakterisierung, er besitze „männlichen Ausdruck“. Dass die Bezeichnung des Virilen in ihrer Bedeutung schwankt, weiß kaum eine Epoche besser als die unsere. Aber dennoch mag die historische Geltung dieses Adjektivs Elemente der Kunst Botticellis zu erschließen, die üblicherweise nicht im Fokus stehen.

So kommt die kristallisch scharfe, klare Zentralperspektive der Bauwerke in den Sinn, in der Botticelli vor allem in seinem Spätwerk offenbarte, mit welcher Präzision er die mathematischen Regeln dieser Projektionsmethode beherrschte. Möglicherweise dachte der Kunstagent auch an die Unerbittlichkeit, mit der Botticelli den Betrachter in dem Florentiner Gemälde „Judith und Holofernes“ mit dem offenen Halsstumpf des geköpften Holofernes konfrontiert. Dies gilt auch für die Gewalt, mit der Botticelli die Legende der Nastagio degli Onesti ausstattete: Hunde reißen sich um die Eingeweide der im Rücken aufgeschlitzten Frau.

Nicht minder könnten im Urteil des Virilen auch Botticellis Schandbilder eine Rolle gespielt haben, mit denen er die acht gehenkten oder noch hinzurichtenden Verantwortlichen des Pazzi-Aufstandes an die Wände des Zollamts mit Stricken an Hals oder Füßen freskierte. Insbesondere die Gestalt des Erzbischofs von Pisa wurde von Seiten des Papstes als derartig verwerflich erachtet, dass die Abnahme dieses Freskos als Bedingung genannt wurde, um den zwischen Rom und Florenz entfesselten Krieg zu beenden. Es dürften all diese Eigenarten gewesen sein, die den Kunstagenten zu seiner Äußerung veranlassten.

Dieses Bild Botticellis wurde bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert durch zwei Mythen harmonisiert. Die wohl mächtigste war die rückwirkende Selbststilisierung der Arnostadt als eine utopisch gelungene Form der menschlichen Gemeinschaft. In der Tat hat sich im Florenz des 14. und 15. Jahrhundert eine Kultur aufgebaut, die wie kaum jemals zuvor oder danach das Verständnis und die Förderung von Kunst in das Zentrum der gesellschaftlichen Anliegen stellte. So gut wie sämtliche Lebenssphären, von der Haartracht, den Gesichtsfarben und dem Schmuck über die Kleidung zum Mobiliar und den teils bemalten Häuserwänden und zu den Reklameschildern und Fahnen waren anspruchsvoll gestaltet, und dies galt insbesondere für die Feste, Prozessionen, Turniere und Sportveranstaltungen. All dies gipfelte in den Werken der Musik, der Dichtung und der bildenden Kunst, die eine filigrane Gotik in die klassischen Regeln der Frührenaissance überführte. Jahr für Jahr pilgern Millionen von Menschen in die Arnostadt, um die Zeugnisse dieser über Generationen sich steigernden Entwicklung zu erfahren.

Das "goldene Zeitalter", war nicht so friedlich, wie es schien

Diese Leistungen beeindrucken umso mehr, als die Zeiten keinesfalls so friedlich waren, wie es die politische Utopie eines „goldenen Zeitalters“ erscheinen lässt. Zu jedem Zeitpunkt waren mächtige Familien gezwungen, in das Exil zu gehen. So hieß es im Umkreis von Medici-Gegnern bereits im Jahr 1465, Florenz sei „ein Paradies, aber von Teufeln bevölkert.“ Die Verbitterung kam in Form der Pazzi-Verschwörung des Jahres 1478 zum Ausbruch, während der Lorenzo de' Medici, der ungekrönte König von Florenz, im Dom durch einen Stich im Hals verletzt wurde. Er kam mit dem Leben davon, sein Bruder Giuliano wurde ermordet.

Giuliano I. de' Medici (1453 - 1478), Italienischer Politiker und als Mitregent seines Bruders Lorenzo Stadtherr von Florenz, wurde 1478 bei der Pazzi-Verschwörung ermordet. Das Bild stammt aus dem Jahr 1478.
Giuliano I. de' Medici (1453 - 1478), Italienischer Politiker und als Mitregent seines Bruders Lorenzo Stadtherr von Florenz, wurde 1478 bei der Pazzi-Verschwörung ermordet. Das Bild stammt aus dem Jahr 1478.

© bpk / Gemäldegalerie, SMB / Jö

Die von Botticelli gemalte Serie von Bildnissen dieses Sprösslings der Medici hatten offenkundig den Sinn, die Auftraggeber in den Besitz von Memorialbildern des Getöteten zu bringen, um auf diese Weise ihre Treue zu den Medici bekunden zu können. Diese Bildnisse waren vermutlich eine Reaktion auf die Rachejustiz, mit der zahlreiche Verschwörer an den Fenstern des Regierungspalastes gehenkt wurden. Botticellis Schandbilder hielten diese Strafe zur ewigen Abschreckung fest.

Im Gegenzug wurde er nach dem Friedensschluss mit Sixtus IV. mitsamt der Crème der Florentiner Maler beauftragt, die Kapelle des Papstes im Vatikan durch einen Moses- und Christuszyklus auszustatten. Mit diesen Fresken der Sixtinischen Kapelle waren die Verschwörung und der sich anschließende Krieg zwischen Rom und Florenz spektakulär besiegelt.

Botticelli malte für die jüngere Medici-Linie

Der zweite Mythos liegt darin, dass der Name der „Medici“ mit einer Aura der Eintracht versehen wurde, welche die inneren Kämpfe der Familienzweige überblendete. Aber bereits die „Primavera“ wie auch die einzigartigen, in Berlin befindlichen Illustrationen zu Dantes Göttlicher Komödie malte Botticelli keinesfalls für den herrschenden Familienzweig des Lorenzo de' Medici, sondern für Lorenzo di Pierfrancesco und damit für das Haupt der jüngeren Medici-Linie. Dieser war bereits in jungen Jahren als Alternative zu Lorenzo ins Spiel gebracht worden, und als die Hauptlinie durch Savonarola im Jahr 1494 aus Florenz vertrieben wurde, legte er den Medici-Namen ab, um gemeinsam mit seinem Bruder unter dem neuen Namen „Volksfreund“ (Popolano) zu dessen Partei überzulaufen. Michelangelo, der 1496 nach Rom wechselte, hielt über Botticelli und Lorenzo di Pierfrancesco Kontakt nach Florenz.

Thronende Maria mit dem Kind und den beiden Johannes (Bardi-Altar). Gemälde auf Pappelholz (1484/1485) von Sandro Botticelli [um 1445- 1510].
Thronende Maria mit dem Kind und den beiden Johannes (Bardi-Altar). Gemälde auf Pappelholz (1484/1485) von Sandro Botticelli [um 1445- 1510].

© bpk / Gemäldegalerie, SMB / Jörg P. Anders

So umstritten sich Botticellis Parteinahme für Savonarola in der Forschung auch darstellt – in jedem Fall bezeugt das Londoner Gemälde der „Mystischen Geburt“ durch seinen neogotischen Stil und durch seine apokalyptische Inschrift jenes mentale Klima, das der ekstatische Bettelmönch in Florenz entfesselt hatte. Der Auftraggeber dieses Gemäldes war ein überzeugter Anhänger Savonarolas.

Der erste Biograph Botticellis, Giorgio Vasari, hat in diesem Zusammenhang ein erstaunliches Bekenntnis geäußert. Er verurteilt Botticelli zunächst dafür, dass dieser die Medici, die ihn entdeckt und berühmt gemacht hätten, durch seinen Übertritt zu ihren Feinden verraten habe; er sei ein veritabler „Parteigänger“ Savonarolas geworden. Dann jedoch spricht er ein Lob aus, das paradigmatisch für das Verhältnis zwischen Kunst und Politik werden sollte: „Das beste, was man von ihm sieht, ist der Triumph des Glaubens des Bruders Girolamo Savonarola aus Ferrara“. Das gerühmte Werk ist heute verloren, so dass Vasaris Urteil nicht überprüft werden kann. Es bleibt aber der Umstand, dass Vasari in einer Kultur, die von der Alleinherrschaft der Medici geprägt war, ein Gemälde lobte, das deren Todfeind verherrlichte. Durch die Qualität seiner Malweise hatte es Vasari zufolge alle politischen Prägungen und Fesseln hinter sich gelassen: die Kunst stand jenseits aller politischen Verrechnung.

Die in der Berliner Gemäldegalerie wie auch im Kupferstichkabinett gesammelten Werke bieten ein unvergleichlich komplexes Bild all dieser Aspekte von Botticellis Werk. Berlin gelang es bereits im 19. Jahrhundert, eine der größten Sammlungen von Werken des Florentiner Malers zu erwerben. Durch den in der englischen Presse mit Empörung quittierten Ankauf der Sammlung des Kaufmannes Edward Solly im Jahr 1823 kamen Botticellis Hl. Sebastian, die Venus und die Madonna dei Candelabri in Berliner Besitz, und im Jahr 1828 gelangte der Bardi-Altar als ein Schlüsselwerk hinzu.

Sandro Botticelli: Der Hl. Sebastian, 1474.
Sandro Botticelli: Der Hl. Sebastian, 1474.

© Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Jörg P. Anders

1875 wurde das Bildnis einer jungen Frau erworben, und drei Jahre später gelangte das Profilporträt Giuliano de' Medicis als eine Art Pendant nach Berlin. Im Jahr 1882 wurden unter dem argwöhnischen Blick der internationalen Öffentlichkeit 88 der insgesamt 96 Zeichnungen Botticellis zu Dantes Göttlicher Komödie aus schottischem Besitz angekauft, und wiederum zwei Jahre später, 1884, kam das Gemälde der Maria mit Kind und acht Engeln als Dauerleihgabe aus dem Besitz von Graf Athanasius Raczynski in das Museum.

Das hieraus sich ergebende Bild des Malers reichte von der antiken Mythologie über die christliche Ikonographie bis zu privaten und politischen Porträts sowie dem Komplex höchst verfeinerter, aber auch drastisch kolorierter Zeichnungen. Nicht nur die Zahl, auch die Themen und Malweisen dieser Werke machen Berlin neben Florenz zu einem besonderen Ort, an dem Sandro Botticelli in seiner widersprüchlichen Komplexität studiert und begriffen werden kann.

"Allzu biegsam oder "männlich"?

Mit Aby Warburgs Dissertation zu den Venus-Darstellungen Botticellis aus dem Jahr 1892 wird der Beginn der modernen Kunstgeschichte verbunden. Trotz höchster Wertschätzung sprach Warburg von Botticelli als einem Maler, der bereits „allzu biegsam“ gewesen sei. Zwischen dieser Äußerung und der Einschätzung des Mailänder Kunstagenten, Botticelli verfüge über einen bemerkenswert „männlichen“ Stil, baut sich das Rätsel seiner Gestalten auf. Die Berliner Ausstellung, in ihrer Ausrichtung eine gänzlich neue Zuwendung zum Werk Botticellis, bezeugt die nicht enden wollende Faszination dieses Malers auf die Kunst der folgenden Jahrhunderte bis in unsere Zeit.

Im Spiegel dieser künstlerischen Deutungen kommt ein weitaus komplexeres Bild Botticellis zustande, als es seit dem neunzehnten Jahrhundert gepflegt worden ist. Es könnte den Anlass bilden, in einem weiteren Schritt das Leben und das Werk Botticellis endgültig nicht als einen gelebten Traum, sondern als eine Konfliktgeschichte zu schreiben, aus der die Kunst eine nochmals gesteigerte Dimension bezog.

Der Autor ist Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt Universität zu Berlin

Horst Bredekamp

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