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Harte Fron. Sträflinge auf Sachalin im Jahr 1890.

© DLA/Staatliches Literaturmuseum der Russischen Föderation

Ausstellung über Tschechows Besuch auf Sachalin: Wallfahrt in die Strafkolonie

Mit 30 Jahren brach der junge Schriftsteller Anton Tschechow zu einem Besuch auf der Gefängnisinsel Sachalin auf. Er blieb acht Monate und schrieb über die Hölle, die er dort fand. Das Literaturmuseum Marbach dokumentiert jetzt seine Reise in einer Austellung.

Michel Foucaults Buch „Überwachen und Strafen“ geht von der These aus, dass sich aus der Praxis des Strafvollzugs Wesentliches über die Gesamtverfassung einer Gesellschaft ableiten lasse. Sage mir, wie ein Land mit seinen Gefangenen umgeht, und ich sage dir, wie es um den zivilisatorischen Fortschritt steht. Dieser Überzeugung war auch der russische Schriftsteller Anton Tschechow, als er im April 1890 in Moskau zu einer achtmonatigen Reise aufbrach, um auf der Sträflingsinsel Sachalin vor der Ostküste Sibiriens den Alltag der dortigen Gefangenen zu studieren.

Sein Verleger, der ihm die Reise schließlich durch einen Vorschuss von tausend Rubeln ermöglichte und ihm einen Journalistenausweis besorgte, war zunächst skeptisch gewesen: „Sachalin braucht niemanden und ist auch für niemanden von Interesse.“ Tschechow war anderer Meinung: „Sachalin nicht brauchen und uninteressant finden, kann nur eine Gesellschaft, die Menschen nicht zu Tausenden dorthin verbannt und nicht Millionen dafür ausgibt … Sachalin, das ist ein Ort der unerträglichsten Leiden, deren ein freier und unfreier Mensch überhaupt fähig ist … Ich bedaure, dass ich nicht sentimental bin, sonst würde ich sagen, dass man zu Orten wie Sachalin wallfahren müsste wie die Türken nach Mekka.“

Das Ergebnis von Tschechows Reise war der Reisebericht „Die Insel Sachalin“, der zunächst in Zeitschriften erschien: eine Mischung aus Belletristik, Essay und wissenschaftlicher Studie. Tschechow hatte ursprünglich eine illustrierte Ausgabe geplant und während seiner Reise Fotos und Postkarten gesammelt. 109 dieser Fotos und Postkarten haben sich erhalten, ihre Abzüge befinden sich heute in der Sammlung des Staatlichen Literaturmuseums der Russischen Föderation in Moskau. 51 davon werden jetzt erstmals unter dem Titel „Anton Tschechows Reise nach Sachalin“ in einem Gemeinschaftsprojekt zwischen dem Moskauer Museum und dem Literaturmuseum der Moderne in Marbach gezeigt.

Picknick im Grauen. Tschechow (rechts stehend) mit japanischen Diplomaten.
Picknick im Grauen. Tschechow (rechts stehend) mit japanischen Diplomaten.

© DLA/Staatliches Literaturmuseum der Russischen Föderation

Der Dichter war 1890 dreißig Jahre alt, hatte erfolgreich ein Medizinstudium abgeschlossen, sich als Autor von Feuilletons und Erzählungen bereits einen Namen gemacht und den renommierten Puschkin-Preis erhalten. Die Reise war Ausdruck einer Schreibkrise und künstlerischen Neubesinnung. „Ich möchte mich leidenschaftlich gern irgendwo für fünf Jahre verkriechen und mich mit mühevoller ernsthafter Arbeit befassen“, schrieb er seinem Verleger.

Tschechow hatte sich durch umfangreiche Lektüre auf Sachalin vorbereitet, das seit 1858 vom Zarenreich als Sträflingskolonie genutzt wurde. Nach einer strapaziösen Reise mit der Eisenbahn, dem Dampfschiff und der Kutsche erreichte er nach zweieinhalb Monaten die Insel und blieb drei Monate. Er konnte sich mit Erlaubnis der zuständigen Behörden dort frei bewegen, nur der Kontakt mit den politischen Gefangenen war ihm verwehrt.

Unter dem Vorwand einer Volkszählung kam Tschechow mit den Sträflingen ins Gespräch, er besuchte das Gefängnislazarett und die Kohlenbergwerke, in denen sie arbeiten mussten, wurde Zeuge von Auspeitschungen und sah, wie sie in Ketten gelegt oder – die härteste Strafe – an einen Karren geschmiedet wurden. All das kann man auf den in Marbach gezeigten Fotos sehen, die von drei verschiedenen Fotografen stammen, die der Autor während seiner Reise kennengelernt hat. Eine Aufnahme zeigt eine Gruppe von Ureinwohnern der Insel, auf zwei anderen sieht man Tschechow bei einem Picknick mit Diplomaten aus Japan, das bald zu einem Konkurrenten der russischen Ambitionen im Fernen Osten werden sollte.

Anfang Oktober 1890 trat Tschechow mit dem Schiff die Rückreise nach Europa an, die ihn über Hongkong, Singapur, Ceylon, Port Said, Konstantinopel und Odessa in knapp zwei Monaten zurück nach Moskau führte. Dort resümierte er, er sei „zufrieden bis an den Hals … Ich kann sagen: ich habe gelebt! Mir reicht es. Ich war in der Hölle, auf Sachalin, und im Paradies, d. h. auf der Insel Ceylon.“ In den knapp 14 Jahren, die ihm nach der Rückkehr aus Sachalin bis zu seinem frühen Tod 1904 noch blieben, sind dann jene vier Theaterstücke entstanden, von der „Möwe“ bis zum „Kirschgarten“, die seinen heutigen Ruhm begründen. Gefragt, wie sich der Besuch in der Strafkolonie in seinem späteren Werk niedergeschlagen habe, soll Tschechow geantwortet haben: Alles sei seit dieser Reise „von Sachalin durchdrungen“. Wer in der Hölle war, sieht die Welt und die Menschen mit einem veränderten Blick.

Literaturmuseum Marbach, bis 11. Januar 2015. Katalog in der Reihe „Ferne Spuren“ (48 Seiten, 7,50 €), zu bestellen unter www.dla-marbach.de

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