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Herbert Ploberger: Selbstbildnis (mit ophthalmologischen Lehrmodellen), 1928 – 1930. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Er beteiligte sich 1929 bei Ausstellungen zur Neuen Sachlichkeit in Berlin und den Niederlanden.

© Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

Ausstellung "Wien Berlin": Wiener Melange

Die Kunst der österreichischen Neuen Sachlichkeit muss außerhalb des Landes erst noch entdeckt werden. Unverkennbar sind jedoch die Parallelen zur Berliner Szene.

Der Coolnessfaktor von Berlin ist ein Gemeinplatz, der es bis in den Wortschatz von Immobilienmaklern geschafft hat, wo er sich eher uncool anhört. Distanz und Schnoddrigkeit bei gleichzeitiger Sensibilität ist ein Lebensgefühl fern jener Bürgerlichkeit, die Kunst als Lebenshilfe missversteht und jeden Freiraum zu kapitalisieren trachtet. Berlin gilt als Stadt, in der nach dem Schock des Ersten Weltkriegs eine neue antibürgerliche Haltung zum Leben erfunden wird. Und hier geht sie unter. Der Berliner Kunstkritiker Paul Westheim sprach von der „sachlichsten aller europäischen Großstädte“, die junge Marlene Dietrich besang 1928 Sachlichkeit als Lokalaroma, das in der sprichwörtlichen Berliner Luft läge und aus ihr nicht mehr zu eliminieren sei. Ein Irrtum, wie sich wenig später, als SA-Schlägertrupps am Kurfürstendamm aufmarschierten, herausstellen sollte. Und dennoch: Der Begriff und die damit verbundene Kunstrichtung der Neuen Sachlichkeit waren in der Welt und tragen bis heute zum Ruhm der Stadt bei. Wien, die zuckerbäckersüße Metropole des K.-u.-k.-Schmäh, scheint für das genaue Gegenteil zu stehen. Mit Wien assoziiert man alles Mögliche: Kitsch, Morbidität bis zur Todessehnsucht, Mehlspeisen, Operette, Barock – bloß keine Sachlichkeit der Kunst. Wien war, in den Worten des damals in Berlin lebenden österreichischen Schriftstellers Alfred Polgar, „die gemütlichste Katakombe Mitteleuropas“. Ein Irrtum, den die Ausstellung „Wien-Berlin“ in der Berlinischen Galerie nun im Lichte prallgefüllter Bildersäle korrigieren will. Dabei soll auch deutlich werden, wie stark die beiden Städte, die sich wie in einem Paternoster dem Auf und Ab der Geschichte hingaben, durch regen Austausch von Ideen, Menschen und Material voneinander profitieren konnten.

Neue Sachlichkeit in Berlin, man denkt an Ikonen der Moderne und große Namen wie George Grosz, Otto Dix, Rudolf Schlichter und Christian Schad, der, bevor er ab 1927 in Berlin reüssierte, zwei Jahre lang in Wien gelebt hatte. Von dort brachte er erste Beispiele seiner altmeisterlich gemalten Porträts mit, auf denen er lebensmüde Wiener Aristokraten oder auch sich selbst auf dem berühmten, heute in der Londoner Tate Gallery befindlichen Selbstporträt durch spärlich bekleidete Nebenfiguren ins erotische Zwielicht rückt. Zwar radikalisierte Schad in Berlin seinen Ansatz, Menschen jenseits gesellschaftlicher Normen darzustellen, immer weiter, doch noch 1930 konstatierte ein Berliner Kunstkritiker bei ihm einen „Moment wienerischer Geschmeidigkeit“.

Carry Hauser gehörte zu den Erneuerern

Der Wiener Carry Hauser gehörte zu den bedeutenden Vertretern der Neuen Sachlichkeit in Wien. Er malte "Jazzband" 1927. Privatbesitz
Der Wiener Carry Hauser gehörte zu den bedeutenden Vertretern der Neuen Sachlichkeit in Wien. Er malte "Jazzband" 1927. Privatbesitz

© privat

Die Kunst der Neuen Wiener Sachlichkeit ist außerhalb von Österreich bis heute unbekannt geblieben. Unverkennbar sind jedoch die Parallelen zur Berliner Szene. Natürlich meldete sich auch in Wien, der roten Insel im klerikal-konservativen habsburgischen Rumpf-Reich, in den 1920er Jahren eine jüngere Generation von Malern und Zeichnern zu Wort, selbstverständlich hatten auch diese Künstler ihren Vaterkomplex. War es in Deutschland der Expressionismus, den man hinter sich lassen wollte, so arbeiteten sich die Wiener an den erratischen Vorkriegsgrößen Klimt, Kokoschka, Schiele, Egger-Lienz ab.

Zu den Erneuerern gehörte Carry Hauser, der „österreichische George Grosz“, der sich 1920 als „Nächtlicher Wanderer“ traumverloren ins Bild setzte und damit, abweichend vom Berliner Vorbild, den romantischen Grundton der Wiener Neusachlichen anschlug. Geschult nicht nur am „kühlen“ Berlin, sondern ebenso an der Pittura Metafisica Giorgio de Chiricos, erfand die Kunstgeschichte für die Wienerische Spielart des europäischen Trends das Etikett Magischer Realismus. Wobei der Begriff Realismus nichts mit schnöder Wirklichkeitsabbildung zu tun hat: „Zu neuer Sinnlichkeit erwacht“, resümierte Rudolf Wacker, neben Herbert Ploberger einer der Hauptvertreter der Richtung, „tasten wir nach dem sinnvollen Reichtum auch noch der geringsten Dinge. Das simpelste Objekt ist phantastischer als alle Erfindung.“ In seinem „Selbstbildnis mit Rasierschaum“ stellt sich Wacker, der als russischer Kriegsgefangener fünf Jahre lang in Sibirien lebte, zunächst jedoch dem Kriegstrauma seiner Generation.

Statt am Chaos der Großstadt arbeiteten sich die jüngeren Wiener Maler wie Otto Rudolf Schatz oder Franz Lerch an ihrem Prater ab, jenem Vexierbild gesellschaftlicher (Un-)Ordnung, das bis heute nichts von seiner Faszination auf österreichische Künstler eingebüßt hat. Ein weiteres äußerst anregendes Wiener Bildthema ist die dortige Theater- und Kleinkunstszene gewesen, aber auch die neue faszinierende Welt der Jazzband, die Carry Hauser im gleichnamigen Gemälde von 1927 feiert. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren Mehrfachbegabungen wie Carl Leopold Hollitzer, B. F. (Benedikt Fred) Dolbin oder Ernst Stern in den neugegründeten Wiener Kabaretts sowohl als Coupletsänger wie als Karikaturisten und Gestalter der Bühnendekorationen in Erscheinung getreten. In den Zwanzigern kamen Dolbin und Stern nach Berlin, wo Stern – wie der bereits 1905 nach Berlin übergesiedelte Emil Orlik – für das Wiener Theatergenie Max Reinhardt gearbeitet hat. Dolbin, ab 1924 in der Reichshauptstadt, konnte dank der immensen Nachfrage der Berliner Presse die Karikatur zum Beruf machen und wurde damit so erfolgreich, dass Kritiker von der Dolbin-Krankheit sprachen, die das mondäne Berlin W. am Kurfürstendamm befallen habe. Das neue artifizielle Lebensgefühl, diese zumindest in Teilen recht Wienerische Melange aus Kleinkunst, Großschauspielern und geistreichem Feuilleton, die den Malern der Neuen Sachlichkeit ihre Themen bot, war damit endgültig von Wien nach Berlin übergesiedelt. Wenige Jahre später fanden sich deren Protagonisten im Exil wieder. Doch zunächst wurde 1928 im Haus Vaterland am Potsdamer Platz eine Grinzinger Weinstube eröffnet, „viel echter als selbst in Wien.“

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