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Ausstellungen: Aufbrechen ist alles

Documenta, Biennale & Co.: Wie die Migration die zeitgenössische Kunst beflügelt.

Der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun stammt aus Marokko. Mit 14 schrieb er sein erstes Gedicht – auf Französisch. Das war 1958. Jahrzehnte lebte er in Paris, letztes Jahr ist er nach Marokko zurückgekehrt. Damals war es die fremde Sprache, die ihn anzog. Die sprachliche Distanz verschaffte ihm eine Freiheit besonderer Art – auch im Umgang mit den Erzählungen und Tabus der eigenen Kultur. Die Worte beider Sprachen bewegen sich heute, wie er sagt, frei in seinen Gehirnstuben, sie „kontaminieren“ einander, da beide Kulturen „porös“, ja: „gastfreundlich“ sind.

Alle Künstler migrieren – ob real oder mental. Die Kunst arbeitet damit, Fernes und Nahes zu verbinden, Fremdes ins eigene Erleben hineinzuholen, Eigenes im Fremden zu inszenieren. Auffallend viele, deren Werke in diesem Sommer auf der „Grand Tour“ der Kunst von Documenta (Kassel), Biennale (Venedig), Skulpturenpark (Münster) bis zu „Made in Germany“ (Hannover) ausgestellt sind, haben dem Kulturkreis, in den sie hineingeboren wurden, den Rücken gekehrt. Irgendwann hat es sie nach Mexiko, Anatolien, Shanghai, Berlin, Düsseldorf oder New York gezogen. Natürlich leistet der längst global agierende Kunstmarkt mit seinen „Börsenplätzen“ London, New York, Venedig oder Miami diesem Trend Vorschub, doch die Migration hat auch andere, gewichtige Gründe. Was macht die Ferne attraktiv und was macht diese Ferne mit der Kunst?

Zum Beispiel Danica Dakic aus Sarajevo. Sie zog es 1988 mit 26 Jahren nach Düsseldorf, wo sie die Meisterklasse von Nam June Paik besuchte. Sie blieb; die Öffnung und Aufbruchsstimmung ihres Landes beförderte die Kontamination. Heute arbeitet sie in beiden Ländern. „Ich glaube fest daran, dass der Mensch eine Baustelle ist“, sagt Dakic. „Wenn wir den Ort wechseln, verändern auch wir uns.“ Ihr gespenstisches „Autoporträt“ – ein grellgelbes Gesicht, altmeisterlich inszeniert, das derzeit in der Ausstellung „Abc der Bilder“ im Pergamonmuseum zu sehen ist – hat einen zweiten Mund an der Stelle der Augen. Jeder Mund erzählt ein Märchen, der eine ein deutsches, der andere ein bosnisches.

Auf Schloss Wilhelmshöhe zeigt die Documenta ihr Video „El Dorado“. Darin erzählen und tanzen jugendliche Migranten (meist aus Afrika) die Etappen ihres Weges bis ins Kasseler Asylantenheim: Ein Rap der Hoffnung inmitten der Verzweiflung, inszeniert vor Wandteppichen des 19. Jahrhunderts, auf denen Paradieslandschaften vom einstigen Fernweh des weißen Mannes zeugen. Im postsozialistischen „El Dorado“ setzen zumindest alle auf eins: dass jedem Ende ein Anfang innewohnt.

Beim Kubaner Diango Hernandez hat keine gesellschaftliche oder politische Öffnung 2005 den Plan zur Übersiedlung nach Düsseldorf beflügelt. Er hatte sich bereits in seiner Heimat als Künstler etabliert und beschreibt diese Zeit heute als „reiner, konzentrierter“. Gleichzeitig wurde die Enge von Mangelwirtschaft und sozialistischem Isolationismus spürbar. In der Fremde fand er Resonanz, neue Anstöße und Möglichkeiten.

Der heute 37-Jährige ist den Installationen seiner Heimat nahe geblieben: Im Hannoveraner Kunstverein baute Hernandez eine Mauer aus objets trouvés, leeren Lautsprecherboxen vom Sperrmüll: „My birds don’t want to come back“ erzählt von der Trauer um die nach Miami „ausgeflogenen“ Landsleute. So unüberwindlich die Mauer, so sehr evozieren die schwarzen Boxenlöcher wehmütig die Zeit, da die Musik noch allen aufspielte, den Zurückgebliebenen und den mittlerweile Weggegangenen.

Eine Freiheitssuche ganz anderer Art unternehmen Künstler, die bewusst Europa den Rücken kehren. Roger M. Buergel und Ruth Noack haben auf der Documenta Mira Schendel wiederentdeckt, eine Schweizer Jüdin, die, 1919 geboren, 1951 der europäischen Heimat nach Brasilien entfloh, und damit auch dem „Über-Ich der institutionellen Orthodoxie der europäischen Kunst“. Im Kunstboom der 1960er Jahre war sie eine wichtige Ansprechpartnerin für die junge Künstlergeneration, vor allem gelang ihr damals selbst mit fragilen Objekten aus lokalen Materialien der Durchbruch.

Auch der Belgier Francis Alys, auf der Biennale in Venedig mit einer Komposition aus Zeichnungen und Videos vertreten, floh die europäischen Kunstgefilde – zunächst wohl, um dem Militärdienst zu entkommen. Den gelernten Architekten zog es nach Mexiko. Heute zieht er schmelzende Eisblöcke durch Mexico City, läuft mit ostentativ gezückter Pistole durch die Straßen, filmt ein Auto, das den Berg scheinbar sinnlos hinauf- und wieder herunterfährt oder fotografiert die Bewegungen der Menschen auf dem größten Platz der Stadt, dem Zocalo, 24 Stunden lang. Auf der diesjährigen Biennale in Venedig hat Alys mit „Bolero (The Shoe Shine Blues)“ Rhythmus, Schönheit und Vanitas des Lebens aus der Sicht des Schuhputzers erkundet. Alys weiß, warum ihn Mexiko City anzieht. „Jedes Mal, wenn ich von einer Reise zurückkomme, gibt es offenbar eine seltsame chemische Reaktion: Egal wie innerlich leer ich ankomme, nach zwei Tagen bin ich wieder voll im Schaffen.“ In Mexiko, sagt er, treten all die methodischen oder ethischen Fragen in den Hintergrund: „Hier gibt es keine Elfenbeintürme. Die Stadt produziert einen Drang, ja Zwang, zu reagieren. Wenn man sie ignoriert, erschlägt sie einen.“

Ganz anders ergeht es dem 1957 geborenen Bulgaren Nedko Solakov, der nur im Kopf „Porösitäten“ herstellt. Er, der nach wie vor in Sofia lebt, untersucht die Stereotypien, die in seiner Heimat und über seine Heimat im Umlauf sind: In Venedig präsentiert er mit leer-stolzem Blick eine Kalaschnikow bulgarischer Provenienz. Er parodiert nationale Fixierungen, die als das erscheinen, was sie – auch – sind: kulturkriegerische Konstrukte. In seinem Werk auf der Documenta geht es dagegen um die alten Themen, um Angst, Liebe, Verrat, Leben und Tod. „Fears“, so der Titel der 99 Tuschzeichnungen, auf denen märchenhaft anmutende Schattenrissfiguren von großen Gefühle erzählen – am unteren Bildrand handschriftlich durch Erzählungen und Kommentare ergänzt. Unter sieben kugeligen Figuren, die nebeneinander die kurzen Beine schwingen, liest man: „Seven very fat men are dancing vigorously. They are trying to postpone death.“

Der spektakulärste Migrant der Documenta ist der Chinese Ai WeiWei. Er, der mit seinen Eltern in der Verbannung aufwuchs, verließ das Land 1981 bei der ersten Gelegenheit, doch seit einigen Jahren lebt er wieder in China. Nach Kassel brachte er 1001 Chinesen, die sich mit Fotoapparat ausgerüstet von der Stadt und der Weltkunst haben anstecken lassen und diese Erfahrungen nach China zurückbringen. Momentaufnahmen des Aufbruchs. Nicht nur Nomaden wie Ai WeiWei wissen, dass jedes Werk, will es gelingen, ein Aufbruch ist.

Marie-Luise Knott

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