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© Spiekermann-Klaas

Ausstellungen: Berlins heißer Kunstherbst

Eine Stadt wächst über sich hinaus. Die neue temporäre Kunsthalle wird eingeweiht. Die Staatlichen Museen veranstalten ein wahres Ausstellungsfeuerwerk. Und das Art Forum öffnet seine Pforten.

So viel Inbrunst war nie in der Kunst. Zwei Dutzend Männer und eine Frau singen sich mit John-Lennon-Songs die Seele aus dem Leib. Mit dem typischen Ausdruck performativer Verzückung intonieren sie im Karaoke-Chor: „Ich glaube nicht an Hitler. Ich glaube nicht an Jesus. Ich glaube an mich!“ Mit Candice Breitz’ Videoninstallation „Inner + Outer Space“ gelingt der Temporären Kunsthalle am Schloßplatz ein furioser Start. Für zwei Jahre steht sie am prominentesten Ort Berlins, einem der geschichtsträchtigsten Flecken der Republik. Hier führt sie den Spagat zwischen arrivierter Kunst und touristischer Flaniermeile vor. Die aus dem Urgrund populärer Kultur destillierten Fanporträts der seit acht Jahren in Berlin lebenden südafrikanischen Künstlerin setzen traumwandlerisch um, was sich der „White Cube“ vorgenommen hat: die Verortung der aktuellen Kunst in der Mitte Berlins, der Beweis ihrer gesellschaftlichen Relevanz.

Die außerhalb der Stadt hoch gefragten internationalen Künstlerstars, denen am eigenen Wohnort bislang die Plattform fehlte, sind damit endgültig im Zentrum angelangt, wo sie sich ihrer Bedeutung entsprechend schon lange wähnten. Nun müssen sie halten, was ihre bisher nur auswärts gezeigten Ausstellungen versprachen. Und die Macher des „White Cube“ haben den Beweis für die Notwendigkeit einer Kunsthalle zu erbringen, die seit Jahren immer wieder eingefordert worden war.

Mit der heutigen Eröffnung der 1000 Quadratmeter großen Kiste am Schloßplatz tritt das aktuelle Berliner Kunstgeschehen in ein neues Stadium ein. Nicht von ungefähr fällt der Startschuss in die Woche dichtester Kunstaktivität in dieser Stadt: das finale Feuerwerk der insgesamt zehn Abschiedsausstellungen für den zum Monatsende scheidenden Generaldirektor der Staatlichen Museen, das 13. Art Forum mit gleich vier Satellitenmessen sowie zahlreiche Galerieeröffnungen.

Im Schauraum der Kunsthalle, die sich allein aus privaten Mitteln finanziert, gewinnt die Kunststadt Berlin einen neuen Orientierungspunkt, wenn auch nur für kurze Zeit. Vor wenigen Wochen aber gab der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit auch den Standort der dann bleibenden Kunsthalle bekannt – am Humboldthafen nahe dem Hauptbahnhof, vis-à-vis dem Hamburger Bahnhof mit dem prosperierenden Galeriequartier Heidestraße. Damit wurde auch die Bedeutung des Schlossplatz-Experiments nochmals aufgewertet. Dort ist zwar nach zwei Jahren endgültig Schluss, wenn der Bau des geplanten Humboldt-Forums beginnt. Am Humboldthafen aber geht es dann weiter.

Mit Bekanntgabe des festen Standorts hat sich der Senat zur Einrichtung einer öffentlichen Kunsthalle endgültig verpflichtet. Mag das Modell, einem privaten Investor den Bau zu überlassen, auch abenteuerlich klingen. Womöglich gibt es für den vom Wiener Architekten Adolf Krischanitz errichteten Zweckbau vom Schloßplatz sogar noch ein zweites Leben – als mobiler Kunstbotschafter der deutschen Hauptstadt in Moskau, Peking, Tokio, wie Kulturstaatssekretär André Schmitz bei der gestrigen Besichtigung verriet. Damit bekäme die Kunstszene von offizieller Seite die bislang versagte Anerkennung – endlich, denn in aller Welt werde er gerade auf die vielen Künstler der Stadt angesprochen, wie Schmitz eingestand.

Die temporäre Kunsthalle hat aber noch eine andere Funktion. Sie ist eine Art Vorbote künftiger Projekte am zentralsten Platz Berlins. Zu den Überraschungen des unspektakulären Baus, der sich erst durch Gerwald Rockenschaubs künstlerische Außengestaltung mit einer gepixelten Wolke als Ort freier Fantasie zu erkennen gibt, gehört die nüchterne Souveränität, die klassische Dignität eines Ausstellungsortes. Durch die gärtnerische Gestaltung des gesamten Areals mit Rasenflächen, Holzstegen und Podesten zum Flanieren und Verweilen erscheint die Kunsthalle wie auf einem Präsentierteller.

Sie ist die blaue Blume in einem urbanen Park. Die nur noch wie faulige Stümpfe aufragenden Treppentürme vom Palast der Republik werden bald verschwunden sein. Zugleich könnte der Kunsthalle mit dem möglichen Denkmal für Freiheit und Einheit in unmittelbarer Nachbarschaft ab nächstem Jahr eine Idealkonkurrenz erwachsen. Auch dazu wird sich nun die zeitgenössische Kunst verhalten müssen. Ihr neuer Standort auf dem so lange debattierten Schloßplatz ist ein Bekenntnis zu Aufgeschlossenheit und öffentlicher Diskussion in der Hauptstadt.

Für diese Werte steht das Werk der in Johannesburg geborenen 36-jährigen Videokünstlerin Candice Breitz ein, die seit 2007 an der Kunsthochschule Braunschweig lehrt. Mit ihren drei Installationen, die nur scheinbar Popstars – John Lennon, Michael Jackson und Madonna – gewidmet sind, schenkt sie mehr noch deren Fans die eigentliche Aufmerksamkeit, ihrer geradezu anrührenden Behauptung von Individualität im Mainstream der Populärkultur. Zugleich sind es Städteporträts. Die Aufnahmen für Lennon entstanden in Newcastle, für Madonna in Mailand und für Michael Jackson in Berlin. Die Gesichter der Lennon-Fans treten dem Betrachter frontal und großformatig entgegen. Ihrer Hingabe, der persönlichen Gestaltung eines Songs in Mimik und stimmlichem Ausdruck kann man sich kaum entziehen. Sie sind eine Fortsetzung der berühmten Porträtserie des Fotopioniers August Sander aus den zwanziger Jahren mit heutigen Mitteln, einem zutiefst humanen Projekt, das zu den Menschen spricht. Die Unterhaltung kann beginnen.

Temporäre Kunsthalle, Vernissage heute 17.30 Uhr. Teil I bis 27. 11., Teil II vom 28. 11. bis 28. 12.; tägl. 11-18 Uhr, Mo bis 22 Uhr. Katalog 25,95 €.

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