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Elend in Farbe. Installation von Yannis Behrakis, "The Persecuted" (Kos, Lesbos, Idomeni, Piraeus, 2015)".

© Panos Kokkinias

Ausstellungen über Flucht auf der Insel Samos: Auch Griechen flüchteten nach Samos

Die Flüchtlingskrise hat die griechische Insel Samos hinter sich. Jetzt beschäftigen sich Künstler dort mit Migration und Krieg.

Unter einem stahlblauen Himmel dehnt sich das etwas dunklere Blau des Meeres, gesprenkelt mit felsigen Inseln. Die Ägäis, Sehnsuchtsziel seit unzähligen Generationen , für jeweils andere Reisende. In unseren Tagen sind es die sonnhungrigen Touristen, die aus dem Norden einfliegen, hierher nach Samos, einer der östlichsten Inseln des Archipels. Beim Blick aus dem Flugzeugfenster ragt nur wenig entfernt eine ganze Bergkette auf, sie markiert bereits Kleinasien, die Westküste der heutigen Türkei. Das Flugzeug senkt sich hinab, wird von Seitenwinden geschüttelt und landet auf dem kleinen Flughafen. So einfach, nach Samos zu gelangen.

So einfach für Touristen, so schwierig für Flüchtlinge. Mindestens 130000 kamen im vergangenen Jahr, andere Gewährsleute sprechen von 200000; auf jeden Fall ein Mehrfaches der Inselbevölkerung von vielleicht 36000 Einwohnern. Sie kamen herüber von der Türkei – die trennende Meerenge ist nicht einmal anderthalb Kilometer breit. An manchen Tagen kamen bis zu 1000 Flüchtlinge, und ebenso viele verließen die Insel wieder auf Fähren zum griechischen Festland. 1350 Flüchtlinge sind jetzt noch da; derzeit kommen vielleicht 20 in einer ganzen Woche. Man könnte sagen: Samos hat die Flüchtlingskrise hinter sich.

Aus den Augen vielleicht, aber nicht aus dem Sinn. Denn der Tourismus, die Haupteinnahmequelle dieser wie der anderen Inseln der Ägäis, ist eingebrochen, heißt es, um rund die Hälfte, auch wenn der Augenschein anderes nahelegt, so voll, wie abends die Restaurants rund um die idyllische Hafenbucht von Pythagorion sind. Der nach dem berühmtesten Sohn der Insel, dem Mathematiker Pythagoras, benannte Ort ist ihr Touristenzentrum nahe an der Nabelschnur des Flughafens. Man ist unter sich; Touristen und Einheimische, Auch viele Griechen machen hier Urlaub. Am Abend des 5. August, da die Befreiung von der osmanischen Herrschaft über die Insel an jenem Tag im Jahr 1824 gefeiert wird, mit Feuerwerk und symbolischer Schiffsverbrennung, zieht der orthodoxe Klerus in seinem ganzen Gepränge auf, eine Militärkapelle spielt Schmissiges, einige wenige Trachten werden getragen. Festtagsstimmung.

Ausstellung über Flucht im antiken Theater

Am Hafen, wo die Kaimauer einen scharfen Knick macht, steht ein Betonklotz aus den siebziger Jahren. In Gemeindebesitz und als Hotel erbaut, geriet er achtlos in Verfall, bis sich eine deutsche Stiftung seiner annahm und daraus das Art Space Pythagorion machte. Die Schwarz Foundation, in München registriert, veranstaltet seit 2012 neben einem Musikfestival im antiken Theater eine Ausstellung im Art Space, diesmal unter dem Titel „A World Not Ours“ (bis 15. Oktober).

So heißt der mit dem Friedensfilmpreis der Berlinale 2013 ausgezeichnete Film des 1979 geborenen Palästinensers Mahdi Fleifel, der von der Sehnsucht nach Heimat handelt. Für Fleifel lag sie in dem Flüchtlingslager, das es seit 1948 gibt, und in dem die Menschen wie schon seine Eltern von einer Heimat träumen, die die Jüngeren nie gesehen haben. Der Film wird an einem der Eröffnungsabende in einem Freiluftkino gezeigt, die Zuschauer rauchen bemerkenswert viel und bekommen in einer Vorführpause Pizza oder Souflaki serviert.

Den Titel „A World Not Ours“ – eine Welt, nicht die unsere – hat der Regisseur selbst geborgt, vom Buch eines palästinensischen Autors. Der Titel wandert, und nun macht er in Griechenland Station. In den Ausstellungsräumen des ehemaligen Hotels, das die Stiftung von lokalen Architekten und Handwerkern mit viel Geschick hat herrichten lassen, ganz dem überschaubaren Maßstab des Ortes verpflichtet, sind Arbeiten von Künstlern verschiedener Nationalitäten zu sehen, die alle um das Flüchtlingsthema kreisen.

Griechen flüchteten einst selbst nach Samos

Das ist nicht neu, das liegt im Trend – man denke nur an Ai Weiwei –, das ist im Einzelnen vielleicht auch künstlerisch nicht sonderlich erhellend, aber es trifft den Nerv. Es trifft den Nerv auf genau dieser Insel, wo Touristen urlauben wie eh und je und wo oberhalb der Inselhauptstadt Vathi – und noch dazu mit direktem Blick auf sie – an einem endlos steilen Hang das Flüchtlingslager steht. Zwei Reihen Zaun umgeben es, obendrauf Stacheldraht. Das Tor ist offen. Ein Polizist hält entspannt Wache im Schatten eines Baumes. 25 Tage nach Ankunft und Registrierung erhalten die Flüchtlinge Ausgang. Das Lager döst in der Hitze. Bäume gibt es drinnen nicht. Fotografieren ist streng verboten.

Es gibt allerdings auch nichts zu sehen, was nicht hunderte Fotografen auf der Jagd nach einem Jahres-Welt-Foto-Preis bereits abgelichtet hätten, gern an Orten, wo es dramatischer zugeht. Hier kommen jetzt Kinder angelaufen, sie freuen sich über jede Abwechslung, und der handfeste Arzt des Camps – 40 Jahre alt, von der griechischen Verwaltung entsandt, die Familie in Athen – gibt ihnen aus seinem Winz-Container heraus ein paar Getränkepäckchen. Der Arzt hat viele Geschichten parat, von der wechselseitigen Eifersucht der NGOs, den unterschiedlichen Mentalitäten von Helfern und Rettungsmannschaften, vom Streit unter den verschiedenen Nationalitäten im Lager, die bis zum Brand eines Schlafcontainers geführt haben, zu der angespannten Zeit, als die Tore des Lagers noch verschlossen waren. Nach deren Öffnung hat sich die Situation entspannt. Vor dem Tor spielt eine Runde junger Männer Karten.

Unten im Art Space zeigt die griechische Künstlerin Marina Gioti ein Video über die Herkunft ihrer Familie. Ihre Großeltern zählten zu den mehr als einer Million Griechen, die 1923 in der „Kleinasiatischen Katastrophe“, wie sie in Griechenland genannt wird, aus ihren 3000-jährigen Siedlungsgebieten vertrieben wurden und auf den ägäischen Inseln Aufnahme fanden, auf Samos, auf Lesbos, auf Chios, Namen, die seit 2015 Synonyme sind für die Flucht aus dem Nahen und ferneren Osten. Als einzigen Besitz hat die Großmutter damals eine Ikone der Heiligen Marina retten können, und die beiden 90-jährigen Großtanten, die im Video davon erzählen, betonen, dass die Ikone immer an die Marina der folgenden Generation vererbt wurde. So hat die Künstlerin sie schon lange bei sich gehabt und nun ihre Geschichte rekonstruiert.

Flucht ist ein generationenübergreifendes Thema

Die Wienerin Tanja Boukal, die sich seit vielen Jahren mit den Fluchtbewegungen unserer Zeit beschäftigt und international sehr präsent ist, hat in Izmir recherchiert, wo eine spezifische Infrastruktur für Flüchtlinge entstanden ist. Schwimmwesten, Mobiltelefone, Sammelpunkte der Schlepper für die letzte Wegstrecke nach Europa; Boukal hat alles fotografiert und die Fotos auf Betonblöcke appliziert, die eine recht dekorative Mauer bilden. Lakonischer ist der kleine Kuppelbau, den die ungarisch-syrische und unter anderem an der Frankfurter Staedelschule ausgebildete Róza El-Hassan neben den Art Space gebaut hat, eine Art Luftschutzbunker aus ungebrannten Lehmziegeln, wie sie in trockenheißen Gegenden seit Urzeiten geformt werden, schlicht und funktional. Es gibt weitere Videos und Fotoarbeiten; alle darauf gerichtet, Tatsachen ans Licht zu bringen, den Betrachter wachzurütteln. So, wenn der mehrfach ausgezeichnete Athener Giorgos Moutafis in Leuchtkästen Schwarz-Weiß- Fotos arrangiert, deren jedes als Ikone des Elends taugt. So herb wie gekonnt.

Den Kontext der Ausstellung stellt die aufwendige Videoinstallation der US-Architektengruppe Diller Scofidio + Renfro her, „Exit“, das die globalen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen in prägnanten Grafikanimationen darstellt und die wirtschaftlichen Zusammenhänge beleuchtet. Griechenland, das sich mit dem Ansturm des Jahres 2015 arg alleingelassen fand, sieht sich hier als Teil einer weltumspannenden Krise. Mehr will die Ausstellung, will die Schwarz Foundation mit ihrer Arbeit gar nicht erreichen, als dem einheimischen Publikum eine Perspektive zu geben, die die eigenen Probleme einordnet, und den sommerfrohen Gästen, dass die Insel keine Insel ist, unberührt von der menschlichen Not ringsum. „Wir versuchen, Brücken zu bauen“, nennt die energische Stiftungs-Chefin Chiona Xanthopoulou-Schwarz als Ziel ihrer Arbeit, und seien es solche zum besseren Verständnis.

Mit Katrina Gregos als Kuratorin hat sie sich eine dezidiert politische Ausstellungsmacherin ins Haus geholt. „Etwas anderes als eine Ausstellung zur Flüchtlingskrise konnte ich mir gar nicht vorstellen“, betont Gregos bei der Eröffnung. Zur (kostenfrei ausliegenden) Ausstellungsbroschüre hat die zuvor unter anderem für den belgische Pavillon bei der Biennale Venedig zuständige Kuratorin eine fulminante Einleitung verfasst, in der sie ihre Sichtweise in die Doppelfrage fasst, "Was wäre, wenn es mir geschähe? Wie würde ich mich verhalten?" Das Problem einer jeden Kunstveranstaltung ist, dass sie diese Fragen nicht beantworten, ja noch nicht einmal darstellen kann, sondern lediglich Widerhaken für das eigene Denken auslegen, Anstöße zu eigenem Empfinden und womöglich Mitgefühl. Gegen die Eindrücke vom Flüchtlingscamp, so oberflächlich sie auch bleiben, kommt die Kunst nicht an, solange sie sich nur als engagierte Recherche versteht. Doch um deutlich zu machen, dass das Flüchtlingsdrama nicht irgendwo hinter Zäunen verschwunden ist, sondern über Generationen und Völker hinweg ein gemeinsames Thema ist und bleibt, ist diese Ausstellung an diesem Ort genau das Richtige.

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