zum Hauptinhalt
Vitrine mit einer zivilen Anzugjacke eines Gefangenen des Konzentrationslagers Majdanek.

© dpa

Ausstellung "Schuhe von Toten": Fahrplanmäßig in die Shoa

In der Sonderausstellung erinnert das Militärhistorische Museum der Bundeswehr an die Deportation von Berlins und Dresdens Juden durch die Deutsche Reichsbahn. Der Titel zitiert das grausame Schicksal vieler Menschen - und insbesondere das eines jungen Mädchens.

Mit der „Polizeiverordnung über die Kennzeichnungspflicht der Juden“ mussten ab 19. September 1941 alle im Deutschen Reich lebenden Juden den „Gelben Stern“ tragen – auch in der Reichshauptstadt Berlin. „Ein sicher für viele irritierenden Anblick war es, wenn vier blonde, dazu noch sportliche junge Männer mit Judenstern geschmückt zur Arbeit marschierten“, schrieb Eppi Chotzen, der Älteste von vier Brüdern, der ursprünglich einer christlich-jüdischen Mischehe entstammte.

In paradox anmutender wie tragischer Weise widersprachen die athletischen Söhne von Elsa und Joseph Chotzen dem von den Nationalsozialisten propagierten Rassebild des heimtückischen Juden, wie es das NS-Propagandablatt „Der Stürmer“ unermüdlich zu karikieren versuchte. Im Gegenteil, die kernigen Wilmersdorfer Jungs waren exzellente Läufer, Handball-, Hockey- und Fußballspieler, die im traditionsreichen Berliner Sport-Verein 1892 (BSV 1892) verschiedene Berliner Meisterschaften gewannen. Und dennoch, 1937 als „Mischlingsjuden“ zunächst aus dem BSV 1892 ausgeschlossen, fielen alle der vier Chotzen-Söhne in den beginnenden 1940iger Jahren dem mörderischen NS-Rassenwahn zum Opfer.

Vom Anhalter Bahnhof nach Dresden

„Liebe Mutti,“[...] „Es geht uns gut“, las die als arisch geltende Mutter Elsa Chotzen im Sommer 1943 auf der Postkarte mit der Sechsreichspfennig-Briefmarke, die das aufgedruckte „Führerporträt“ zeigte. Der Euphorie versprühende Kartengruß, der postamtlich korrekt mit „Dresden 29. 06.1943 - 15 (Uhr)“ abgestempelt war, sollte die seelisch schwer angeschlagene Mutter beruhigen helfen. Nur wenige Monate zuvor hatte Elsa Chotzen vom Tod ihres zweitjüngsten Sohns Erich erfahren, der im Januar 1942 nach Riga verbannt und dort ermordet wurde.

Am 29. Juni 1943, wurden nun auch ihre Söhne Ulli und Bubi aus der Reichshauptstadt deportiert; zusammen mit ihren jüdischen Ehefrauen Ruth und Lisa Chotzen. Zum „Arbeitseinsatz im Ostland“, wie es im offiziellen Deportationsbefehl hieß. Pünktlich um 6:06 Uhr war der Personenzug von Berlins prächtigem Anhalter Bahnhof losgefahren. Um 10:34 Uhr traf der Eisenbahnzug Nummer 425/712, so die wissenschaftlich recherchierte die Zugkennzeichnung, am Dresdener Hauptbahnhof ein, um Punkt 14:30 Uhr Richtung Süden ins „Generalgouvernement“ weiterzufahren.

Endstation Theresienstadt

Das Reiseziel des von der Reichsbahn extra für die Deportierten ans Eisenbahnende gekoppelten „Verstärkungswagens“ war das böhmische Konzentrationslager Theresienstadt, das die vier Chotzens  pünktlich um 18:47 Uhr erreichten. Fahrplanmäßig und als Teil des regulären Eisenbahnbetriebs, wurden die Ausgegrenzten zu Zehntausenden nach „Osten“ verschleppt. Per „Einzelwaggonierung“, so der Eisenbahner-Jargon, und in enger organisatorischer Koordination zwischen dem Reichssicherheitshauptamt und der Deutschen Reichsbahn. Dass die in Dresden aus den Deportationswaggons geworfenen Postkarten ihre Adressanten erreichten, ist vermutlich engagierten Dresdner Passanten oder Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Dresden zu verdanken.

Als Zwangsarbeiter wurden Dresdens Juden in den 1940igern gezwungen, die Verschleppten bei ihrem Durchreisehalt an der Elbe mit Nahrung und Getränken zu versorgen. Auf dem Weg aus dem Reich sollten die als unspektakuläre Osteinsätze getarnten Verbrechen bei der deutschen Bevölkerung als polizeiamtlich korrekt angeordnete Verschickungsreisen erscheinen.             

Systematische Deportationen

Am 15. Oktober 1941 setzten die systematischen Judendeportierungen aus dem „Großdeutschen Reich“ ein. Gleich, ob aus Aachen, Würzburg, Braunschweig oder Berlin kommend, viele der „Koppelzüge“ hielten auf Dresdner Gleisen Zwischenstation, um ihre Fahrt in den von der Wehrmacht eroberten Ostraum fortzusetzen. Dass die Reichsbahn-Drehscheibe an der Elbmetropole für die Holocaust-Täter von zentraler Bedeutung war, zeigen die zwischen dem 9. Januar 1942 und dem 28. Oktober 1944 durchgeführten Verschleppungsaktionen, die für 88.202 Juden vom „Transitghetto“ Theresienstadt über Reichsbahndirektion Dresden in die „Tiefe des „Ostraums“ erfolgten. Davon wurden 46.750 Juden direkt nach Auschwitz verbannt.

Erschütternde Verse

„Schuhe von Toten – Dresden und die Shoa“, lautet der Titel der Dresdener Sonderausstellung, die das Militärhistorische Museum der Bundeswehr (MHM) noch bis zum 25. März zeigt. Das MHM will so an das Schicksal jener Berliner und Dresdner Juden erinnern, die während der nationalsozialistischen Willkürherrschaft erst ausgegrenzt, später mit dem „Gelben Stern“ markiert und zuletzt deportiert und ermordet wurden. „Die Judendeportationen aus dem Reich passierten inmitten des offiziellen Berliner oder Dresdner Reiseverkehrs. Nichtjüdische Reisende waren oftmals unmittelbare Zeugen der Deportationen“, wie Dr. Gorch Pieken (Foto), Wissenschaftlicher Direktor am MHM, dem Tagesspiegel sagte.                

Befreiung des Todeslagers Majdanek                             

Mit dem Extraevent erinnert das MHM zudem an Befreiung des Konzentrationslagers Majdanek durch die Roten Armee am 23. Juli 1944. „Als deutschlandweit einziges Museum“, so Pieken. Um die 80.000 Menschen wurden im Lubliner Todeslager ermordet. Die Schuhe der Getöteten wurden in einer Effektenkammer gesammelt und in Deutschland weiterverwertet. Ein im Herbst 1943 zum Aussortieren der Schuhe abkommandiertes Mädchen verfasste dabei ein Gedicht: „Schuhe von Toten“. 1944 wurde die Zwölfjährige ermordet.

Mithäftlinge lernten das Gedicht auswendig und überlieferten die erschütternden Verse mündlich. Nach Kriegsende, beim Prozess gegen die ehemaligen KZ-Bewacher, der von 1975 bis 1981 vor dem Düsseldorfer Landgericht stattfand, wurde das Gedicht in den Strafakten niedergeschrieben. 

Erinnerung an Familienschicksale

Mit der museumspädagogisch feinfühlig konzipierten Sonderschau wird das MHM nun überaus konkret: So zeigt die Sonderausstellung neben der Chotzen-Postkarte auch handgeschriebene Partituren des 1943 ermordeten jüdischen Dresdner Komponisten Arthus Chitz oder die originalen Tagebucheintragungen des berühmten, zum Protestantismus konvertierten jüdischen Romanisten Victor Klemperer, der die Shoa dank seiner resoluten „arischen“ Ehefrau Eva überlebte. Einfühlsam und anschaulich rückt das MHM 33 Familienschicksale jüdischer Menschen, die in Berlin und Dresden lebten und die über den Eisenbahnknoten der Elbmetropole in die Todeslager verschickt wurden, in das Zentrum individualhistorischer Betrachtungen – „entreißt dem Schuhwerk seine Anonymität und gibt den Opfern wieder ihre Geschichte zurück“, so Pieken über die oftmals „herzzerreißenden Schicksale“, welche die nun aus aller Welt zusammengetragenen Exponate ermordeter Berliner oder Dresdner Juden dokumentieren sollen.   

Volker Schubert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false