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Fiona_Tan

© Kunstmuseum Wolfsburg

Identität: Das Sein ein schöner Schein

Wer bin ich? Das Kunstmuseum Wolfsburg stellt die Identitäts-Frage und zeigt "1309 Gesichter".

Krasser könnte der Gegensatz kaum sein. Während im Zentrum des Kunstmuseums Wolfsburg die grandiosen menschenleeren Lichträume und Wüstenträume des Amerikaners James Turrell eine eigene Reise wert sind, geben die Museumsmacher einer kleineren ParallelAusstellung nun den Titel „Ich, zweifellos. 1309 Gesichter“. Turrells Weltraum liefert so den Kontrast zum inneren Universum, zur Frage nach subjektiver Identität im Spiegel neuerer Porträts.

Als erster Blickfang dient freilich ein historisches Gemälde von 1740, Antoine Pesnes Abbild des Grafen von Schulenburg-Emden, ein Vorfahre des Schlossherrn von Wolfsburg, hier dargestellt als Marschall von Venedig. Diese Ouvertüre bezeichnet den Abstand zu den neun Künstlern von heute. Auch das annoncierte „Ich, zweifellos“ gehört zur Ironie der Geschichte – die seit dem Anbruch der Moderne eher auf Rimbauds Motto „Ich ist ein Anderer“ und den Zweifel an der unentfremdeten, psychologisch und bildlich festen Identität gründet. Wer bin ich und wenn ja, wie viele?, heißt nun die Devise.

Weil diese existentielle Frage aber fast alles Denken und Tun angeht, betrifft sie auch nahezu alle Kunst. Das ist die große Beliebigkeitsfalle, in die ziemlich unvermeidlich die Wolfsburger Ausstellung stürmt. So bilden die vier fotografischen Selbstverwandlungen von Cindy Sherman (mal biederes All-American Hausweib, mal mondäner Mystery-Star) aus ihrem viel größeren Zyklus der „Untitled Film Stills“ nur einen zufälligen Ausschnitt. Auch Bruce Naumans frühe Video-Arbeit „Flesh to White to Black to Flesh“, die einen Männerkörper wechselnd schwarz-weiß färbt, bleibt ein Oberflächeneffekt, wenn der politische Kontext, die amerikanischen Rassenunruhen und Bürgerrechtskämpfe der Sechziger, in der Wolfsburger Schau entfällt.

Einen neueren Fokus soll dagegen die 140-teilige Installation „Millions Now Living Never Die!!!“ von Brian Alfred bilden. Der 35-jährige Engländer hat bis 2009 die Gesichter von Berühmten und Unbekannten mit Hilfe von Pinsel und Schablonen auf jeweils etwa 25 x 15 Zentimetern halb naiv, halb (foto)realistisch zu einer Porträt-Galerie versammelt. Wer will, kann da Bill Gates oder Bill Clinton, Godard oder Jim Jarmuch, aber auch den Künstlerkollegen Olafur Eliasson erkennen. Royals, Popstars und Normalmenschen werden so zu bunten und doch sonderbar blassen Ikonen. Die einzelnen Ölbildchen sind zu flach, zu sehr nur Zitat, um ein zeitgenössisches Über-Ich auszumalen oder auch nur Warhols schönen Leitsatz des Seriellen „Two is better than one“ originell zu reflektieren.

So dominieren zwei andere Werke. Natürlich Christian Boltanskis weltberühmter, in Wolfsburg schon vor 15 Jahren kurz nach der Museumsgründung für die eigene Sammlung erworbener halbdunkler Andachtsraum mit dem schlichten Titel „Menschlich“. Die dort alle Wände raumhoch bedeckenden über 1100 Schwarzweißfotografien bilden einen geisterhaften, tatsächlich gespenstisch- menschlichen Gesichterreigen. Leicht unscharf wie Gerhard Richters Foto-Gemälde, wie alte Passfotos wirkend oder an Zeitungsbilder oder Schnappschüsse aus den Erinnerungsalben längst Verstorbener gemahnend, schafft Boltanski ein Museum der verlorenen Zeit. Zweitausend tote, lachende, melancholische, rätselhafte Augen sehen einen an. Jedermann, Jedefrau, Jedeskind. Ein Denkmal für den unbekannten Menschen.

Geheimnisvoll gibt sich auch Fiona Tans knapp halbstündiger Film „A Lapse of Memory“. Die niederländisch-indonesische Künstlerin, die zuletzt wieder bei der Biennale in Venedig beeindruckte, hat 2007 im Royal Pavillon von Brighton, in einem märchenhaften Palast im chinesisch-japanischen Stil von 1815, den Tagesablauf eines Eremiten namens Henry inszeniert. Der alte Mann schläft dort auf dem Fußboden und sinniert tagsüber, durch endlose Hallen geisternd, als Narr oder Weiser. Angeblich ein Autist, der als Abenteurer einer Lebensreise durch viele Länder sein Gedächtnis verloren hat. Das wirkt höchst suggestiv und pittoresk. Allerdings sieht man erkennbar „nur“ einem Schauspieler zu: Sein Ich ist Kunst und alles Sein ein schöner Schein.

„Ich, zweifellos. 1309 Gesichter“, Kunstmuseum Wolfsburg, Di-So, bis 28. März.

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