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Renator Guttuso

© Vincenzo Brai, Palermo/Katalog

Italienische Kunst: Der Schock von ’68

Der Palazzo Grassi zu Venedig zeigt vierzig Jahre „Italienische Kunst zwischen Tradition und Revolution“. Francesco Bonami kuratiert eine eigenwillige Ausstellung, die um Todesahnung und Eleganz kreist.

Die italienische Kunst der Gegenwart, so Francesco Bonami, sei außerhalb Italiens „weitgehend unbekannt“. Was für eine überraschende Äußerung seitens des Kurators der neuen Ausstellung im Palazzo Grassi zu Venedig, die unter dem Titel „Italics“ italienische Kunst „zwischen Tradition und Revolution, 1968 – 2008“ vorstellt! Denn nicht zuletzt die italienische Kunst hat mit Strömungen wie der Arte Povera in den siebziger Jahren oder der Transavanguardia in den Achtzigern eine führende Rolle im weltweiten Kunstgeschehen der vergangenen Dezennien gespielt. Also muss etwas anderes hinter der coram publico getanen Äußerung des 53-jährigen, ebenso intellektuellen wie energischen Kurators stecken.

Es ist dies eine leise Melancholie, was die Rolle der italienischen Kunst, mehr aber noch, was ihren innersten Kern betrifft. Bonami sieht sie auf ewig der jahrhundertealten Tradition mindestens seit der Renaissance verhaftet, der sie weder entgehen kann noch will, gegen die sie aufbegehrt, ohne sie je zu überwinden. Die Fotografie von Tano D’Amico in der Ausstellung, die einen von einem jungen Polizisten verhafteten gleichaltrigen Demonstranten im Rom des Jahres 1977 zeigt, steht geradezu sinnbildlich für diese Stimmung: „Wir könnten Brüder sein“, lautet der Titel, den der Fotograf ihr gegeben hat. Ja, Tradition und Revolution könnten in Italien Brüder sein.

Sie sind es auch, wie Renato Guttusos großformatige Leinwand vom „Begräbnis Togliattis“ zeigt, ein Hauptstück des Realismus, den Palmiro Togliatti als Generalsekretär der Kommunistischen Partei 1947 zur einzigen Kunst erhoben hatte. Guttuso wurde ihr verehrter Meister – der kommunistisch gesonnene Bürger par excellence. Rote Fahnen, formvollendet ins Bild gesetzt, eine Revolution all’accademia: Das ist für Italien ein wahrlich treffendes Bild.

Seine Ausstellung, so Bonami bei der Vorbesichtigung in dem seit wenigen Jahren aparterweise von einem französischen Milliardär finanzierten Palazzo Grassi, sei ein „Essay“. Das ließ Ungutes erwarten, versteckt sich doch hinter dem schönen Wort Essay meist Beliebigkeit. Anders hier: Zwar gibt es mitnichten eine ausgewogene, auch nur chronologisch geordnete Übersicht über vierzig Jahre italienischer Kunst, wohl aber eine durchdachte und in allen Facetten erprobte Sichtweise.

Bonami ortet den produktiven Urknall der italienischen Gegenwartskunst im Jahr 1968 und damit in dem gesellschaftspolitischen Aufbegehren, das die damals noch arg traditionell, wenn nicht archaisch geprägte Gesellschaft erfasste. Mit dem Umkippen der Revolte in den Terrorismus der Roten Brigaden einerseits, dem unverhohlenen Angriff der Mafia auf eine ihrerseits korrupte Staatsmacht andererseits, mit dieser Orgie von Blut und Gewalt auf allen Seiten vertiefte sich der 1968 entstandene Riss, den die Kunst auf vielfältige Weise reflektierte.

So sind in der Ausstellung immer wieder Fotosequenzen zu sehen, darunter die eindringliche Reihe der Aufnahmen von Letizia Battaglia aus Palermo, in der Mörder und Ermordete gleichermaßen Opfer sind. Ganz in der Nähe ein berühmtes Foto von Cesare Colombo aus dem Jahr 1968, das die nächtlich erleuchteten Fenster eines Mailänder Bürohochhauses zeigt, als Symbol der Entfremdung moderner Schreibtischarbeit. Carlo Mollinos Fotografien schöner Nackter weisen auf die Tabus des katholischen Italien, aber ebenso bereits in die Richtung deren marktkonformer Ausbeutung; da hätten die vor Jahren heiß diskutierten Werbefotos einer bekannten Bekleidungskette gut hinzugepasst.

Die Kunst von 1968 ist ebenso orientierungslos, vielfältig und hoffnungsvoll wie der politische Aufruhr selbst. So viel entstand 1968: Mario Schifano lässt seine „Gefährten, Gefährten“ hinter rotem Plexiglas verschwimmen, Michelangelo Pistoletto bringt die „Posaunen des Jüngsten Gerichts“ zum Klingen, Giovanni Anselmo legt einen spitzen Stein unter dem Titel „Richtung“ aus. Und Altmeister Lucio Fontana erweitert seine geschlitzten Leinwände zu einem gleißenden „Räumlichen Ambiente“, einer weißen Folterkammer. Auch Enrico Castellani gibt sich 1968 mit weißen Tafeln zufrieden, die nichts sind als sie selbst, während Pino Pascali eine enorme Spielzeugspinne bastelt, die „Blaue Witwe“.

1968 ist das Jahr, in dem die Biennale von Venedig von Polizeikräften gestürmt wird. Daraufhin dreht Gastone Novelli, mit einem ganzen Saal geehrt, seine Bilder zur Wand und schreibt auf die Rückseite einer Leinwand „Die Biennale ist faschistisch“. Jetzt ist ebendieses Bild im Palazzo Grassi erneut zu sehen.

Was nach 1968 kommt, sind Folgen und Weiterungen. Emilio Vedova, der große, vor zwei Jahren 87-jährig verstorbene Venezianer, behält seine gestische Malerei bei – das prononcierte Gegenstück zu Guttusos parteigefeiertem Realismus –, integriert aber bisweilen die „armen“ Materialien der Arte Povera. Bonami zeigt des Malers allerletztes Bild von 2006, so wild und entschieden wie je, mit der Farbspur der linken Hand.

Die Transavanguardia der Chia, Clemente und Cucchi wird lediglich der Vollständigkeit halber gestreift, wenn auch mit durchaus eindrucksvollen Arbeiten der „drei C“. Mario Merz – außerhalb Italiens als immerwährender Vorzeigekünstler herumgereicht – muss sich mit einer kleinen Ausführung seiner allzu oft verwandten, neonröhrenerleuchteten Zahlen der „Fibonacci-Reihe“ begnügen.

Die mangelnde Chronologie überdeckt, dass die Auswahl der über 200 Werke von 105 Künstlern hochgradig subjektivistisch ist – was hier alles andere ist als zufällig. Bonamo legt „die italienische Kunst auf die Couch“ – ähnlich der Vorgehensweise Fellinis, auf den er sich beiläufig, doch erkennbar beruft.

Im Lichthof des Palazzo Grassi findet sich die aktuellste Arbeit, eine 2008 geschaffene Skulptur des 1960 im Veneto geborenen Maurizio Cattelan: „Alle“, neun von Leichentüchern bedeckte Körper, alle in feinstem Carrara-Marmor, wie von italienischen Friedhöfen vertraut, die ohnehin immer zugleich Skulpturengärten sind. Es scheint nach dieser eigenwilligen Ausstellung, dass die italienische Kunst der Gegenwart vor allem um die Ahnung des Todes kreist, voller Eleganz und Elegie. 1968 war dabei das Jahr, das die älteren Künstler am Sinn ihrer Kunst zweifeln und die jüngeren ihn gar nicht erst finden ließ.

Venedig, Palazzo Grassi, bis 22. März, Mi–Mo 10-19 Uhr. Katalog bei Electa, 50 €.

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