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Karl Valentin: Absturz ja, Sprungtuch nein

Humor eines Hypochonders - die große Karl-Valentin-Ausstellung im Berliner Gropius-Bau zeigt die Facetten eines Genies.

Auf seiner Requisitenliste steht: 1 Brennerzange, 1 Globus, 1 Pferd mit Pferdeäpfelverrichtung, 2 Kokosschalen für Pferdegetrappelimitation, 2 Besen und Schaufel für den Oberregierungsrat, 1 Mondbeleuchtungsvorrichtung, 1 Mond und Sterne zum Aufstecken, 1 Absturz-Vorrichtung, 1 Anzahl gestrichener oder kaschierter Flugzeugtrümmer, 1 Decke zur Mondverfinsterung. Die Personen: zwei Piloten, Bürgermeister, Regierungsrat, Schutzmann zu Pferd, zwei Fotografen, Fliegerbraut, Stadträte, Musiker, Zeitungsmann. Der Erfinder dieser Szene denkt kosmisch und detailliert.

„Der Flug zum Mond mit dem Raketenflugzeug“ ist das aufwendigste Bühnenarrangement Karl Valentins, angeordnet als Totalaufnahme vor der Kamera, unter Einsatz von Filmprojektionen, einer gemalten beweglichen Menschenmauer und Radiosimulation. Rakete knattert. Dunkel. Flug über München. Bordgespräch Pilot mit Copilot. Mondanflug, Blitzschlag. „III. Szene Absturz auf der Bühne“, skizziert der Plot. „Noch mindestens 50 gute Witze“ seien im Verlauf von 60 Aufführungen des Jahres 1930 hinzugekommen, hat der Komiker vermerkt. Texte werden immer wieder improvisiert; dagegen liefert die ausgefeilte Bühnentechnik seinem klaustrophobisch vernagelten, im haltlos freien Fall befindlichen Universum ein Gerüst der Pseudosicherheit. Absturzvorrichtung ja; Sprungtuch nein.

Ob dieser Hobbyschreiner und Moritatensänger in der Zwangsjacke seiner Zirkelschlüsse das eigene Werk „verstanden“ hat, ist vielleicht nicht zu beweisen. Aber kann seine Nachwelt ihn verstehen? Nun landet der Reisephobiker erstmals als Objekt einer Ausstellung, die ihn neu entdecken möchte, an der Spree: wo er während der zwanziger, dreißiger Jahre Varieté-Erfolge gefeiert, von wo er Jammerbriefe an die Isar geschickt hatte. Initiiert worden war diese Annäherung (zum 125. Wiegenfest, anno 2007) von Filmmuseumsleuten in Frankfurt am Main und Düsseldorf. Die bayerische Heimatstadt des Radikalkomikers hatte bereits zu dessen 100. Geburtstag eine Schau auf die Beine gestellt (Titel: „Volks-Sänger? DADAist?“), weshalb man keinen Bedarf für neue Ehrungen sah: ohne zu berücksichtigen, dass der 1953 an einen Privatsammler gelangte Nachlass des Künstlers als Teil einer theaterwissenschaftlichen Sammlung auf Schloss Wahn bei Köln inzwischen der Wissenschaft zugänglich wurde. Herrliche Fundsachen haben die Wühler inspiriert, nach dem gemütvollen Lokalhumoristen und dem literarischen Avantgardisten jetzt auch ihren Valentin vorzustellen – den „Filmpionier und Medienhandwerker“.

Ein Zentrum dieser Präsentation ist der Stummfilmsaal im Martin-Gropius-Bau. „Der is’ nur durch Projektion in das Theater ’reinkommen…“ steht an der einen Wand. „Sicher is’, daß nix sicher is’, drum bin ich vorsichtshalber mißtrauisch“, steht an der anderen. In seiner Gesamtkunstwelt der Verunsicherung rechnet der Hypochonder Valentin mit allen Risiken. Angst lässt ihn nachfragen, nachfassen, nachbessern – bis jeder logische Kontext, jede haltbare Konstruktion demontiert ist. In einem frühen Film, „Der neue Schreibtisch“ (1913), verkörperte er einen spindelbeinigen Beamten, der unebene Beine des Möbels sägend anpasst – bis zur Ebenerdigkeit. Bis zum Auf-den-Grund-Gehen durch Fußboden- Bohrung; bis zum Sturz in den Frisiersalon darunter; bis alles in Scherben fällt. Ökonomische Sorge macht ihn zum Denunzianten: Er verleumdet einen Regisseur bei NS-Behörden als jüdischen Wucherer. Angst, sagt er, hätte ihn im Falle einer Aufforderung, Mitglied zu werden, in die NSDAP eintreten lassen. Aber als Hitler Valentins Münchner Postkartensammlung, sein Nostalgie-Panorama guter alter Zeiten, für astronomische 100 000 Mark unter der Auflage kaufen will, dass mit dem Geld kein Film produziert werde, zieht der Beleidigte trotz Geldnot zurück: „Sagen S’ dem Herrn Führer, I bin wie er – alles oder nichts.“

Unter hunderten von Kleinbildern, die diese Ausstellung begleiten, befinden sich auch Stillleben des Eheschlafzimmers von 1920 und 1926: Metallene Hospitalbetten, eine Reproduktion des gemarterten Crucifixus (Isenheimer Altar). Waschgeschirr. Das Szenario ist kühl: die Tragödie der jahrzehntelangen Dreiecksverbindung mit Gattin Gisela und Liesl Karlstadt, seiner künstlerischen Partnerin, die versuchen wird, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihre große Geldinvestition in Valentins Panoptikum, ein heiteres Horrormuseum dinggewordener Witze, als Pleite endet. Beziehungssackgassen spiegeln den Kommunikationscrash seiner Weltanschauung – und umgekehrt.

Die Zertrümmerung seines unkontrolliert expandierten Höllenmaschinen-Orchestrions der 100 Instrumente stand am Anfang seiner Tingeltangel-Karriere; so werde einst die Welt untergehen, soll er gesagt haben. Der Einsatz vermaledeiter Gliedmaßen wird Leitmotiv: sein Kampf mit dem Körper, mit feindlich-fremden Worten das Thema. „Seine Zerstörungswut lässt noch von Ferne jenes utopische Denken erkennen, das dem Machbarkeitsglauben des 20. Jahrhunderts zugrunde liegt“, schreibt Willi Winkler im Katalog. „Selbst im größten Vernichtungsrausch will er noch schaffen, und immer muss es das Beste, das Vollkommene, das Unerhörte sein.“ Valentins Versuche, das Individuum mit der totalitären Struktur abstrakter Regeln zu versöhnen, den widerspenstigen Leib und die entfesselte Welt der Werkzeuge zu harmonisieren, beschreiben das Katastrophenjahrhundert als Farce. Seine tödliche Lungenentzündung holt sich der Unterernährte 1948, als er, nach seinem letzten Auftritt, im unbeheizten Kabarett eingeschlossen wird.

Diesen Epochenhelden des Angstgelächters biografisch auferstehen zu lassen, wäre eine Chance gewesen. Zwar lassen die Ausstellungsmacher unter Bauernstuben-Ornamenten Grundinfos zur Vita mitlaufen, stellen aber intermediale Arbeitsprozesse in den Vordergrund: Mit materialverliebter Kleinteiligkeit bedient diese fokussierte Präsentation eher Fans. Ihr Verdienst ist gleichwohl, die Verhärtung der hübschen Jünglingsphysiognomie zur verbissenen Maske des Fundamentalzweiflers in Porträtparaden vorzuführen, außerdem wunderbar kolorierte Bühnenfotos erstmals – im Katalog! – und die meisten erhaltenen Stumm- und Tonfilme zu zeigen.

Auf eine sinnliche Inszenierung von Valentins populärster Prophetie müssen wir Hotline-Opfer dagegen warten, also auf jene Telefonobsessionen, die Valentins Schaffen von „Telefonschmerzen“ (1902) über seinen „Buchbinder Wanninger“ (1940) bis zu dem im Ausruf „Nieder mit dem Telefon! – Ein Hoch der Technik!“ gipfelnden Entwurf „Immer belegt“ (1945) durchziehen. Erst die nächste Jubiläumsschau wird uns, vielleicht, in sein Entfremdungsverließ einladen: das Callcenter auf dem Mond.

Martin-Gropius-Bau, bis 21. April, tägl. außer dienstags 10 bis 20 Uhr

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